Abrechnung: Ein Fall für Kostas Charitos (German Edition)
erwähnt oder, wenn sich der Mietinteressent als einer ihrer Verwandten oder Bekannten vorgestellt hätte, sie darauf angesprochen. Da Lepeniotis jedoch nichts Derartiges erwähnt hat, dürfte er seinen Mörder beim Besichtigungstermin zum ersten Mal gesehen haben.
»Glauben Sie, dass der Mann, der den Laden besichtigt hat, den Mord begangen hat?«, fragt mich Velissaridis.
»Das ist, auf den ersten Blick jedenfalls, naheliegend«, antworte ich ohne Umschweife. »Es muss jemand sein, der die Generation Polytechnikum ins Visier genommen hat, wir können bloß sein Motiv noch nicht nachvollziehen.«
»Was ist da so schwer nachzuvollziehen?«, fragt mich der Mann mit Schnauzer, gestreiftem Hemd und rotem Pullover neben mir. »Wenn du dich jahrelang an den Fleischtöpfen satt gefressen hast und plötzlich eine Krise ausbricht, wird es immer jemanden geben, der dich dafür zur Rechenschaft ziehen will.«
»Schon gut, Thomas«, meint Velissaridis genervt. »Die Generation Polytechnikum hat sich an den Fleischtöpfen bedient. Ihr von der Lehrergewerkschaft DAKE hattet nichts mit dem Polytechnikum zu tun. Aber wurdet ihr ungerecht behandelt? Habt ihr Grund, euch zu beschweren? Kann sein, dass ihr euch nicht gerade an die Fleischtöpfe gedrängt habt, aber beim Dessert habt ihr ordentlich zugelangt.«
»Die beiden Fraktionen, die Griechenland ruiniert haben, streiten sich, wer mehr abgesahnt hat«, spottet der Jüngste.
»Ihr steht doch an der Seite des Volkes«, stichelt Thomas. »Deshalb habt ihr eine alte Volksweisheit aufgegriffen.«
»Welche alte Volksweisheit?«, wundert sich Velissaridis.
»Bei den Demos getrennt, beim Fressen vereint«, entgegnet ihm Thomas.
Das Gespräch ist von Lepeniotis abgeschweift und hat sich in internes Gezänk verwandelt. Da ich mir ausrechnen kann, dass keine Informationen mehr für mich herausspringen, und ihr Geplänkel mich nicht interessiert, entschließe ich mich zum Aufbruch.
»Jedenfalls sollten Sie solchen Zoff nicht nach außen tragen«, sage ich, als ich aufstehe und mit Papadakis im Gefolge hinausgehe.
»Keine Sorge, wir wissen schon, wie wir das Ansehen des Dachverbandes wahren«, beruhigt mich Velissaridis.
»Das Ansehen des Dachverbandes kratzt mich nicht, aber wenn Sie Ihre Konflikte nach außen tragen, wird es bald noch mehr Opfer geben. Mir aber reichen die drei, die wir bis jetzt haben, vollauf.«
Grußlos gehe ich hinaus. Papadakis folgt mir schweigend, doch als wir am Streifenwagen ankommen, bricht es aus ihm heraus.
»Das also war die Generation Polytechnikum?«
»Frag mich nicht, was die Generation Polytechnikum war, Papadakis, denn ich weiß es nicht. Damals war ich an der Polizeischule und danach Gefängniswärter bei der Sicherheitspolizei. Für mich bestand die Generation Polytechnikum aus lauter Kommunistenschweinen, die uns zu einem Satellitenstaat der Sowjetunion machen wollten. So zumindest hatten es uns unsere Vorgesetzten erklärt. Und jetzt ist mir das alles genauso rätselhaft wie dir.«
»Alles wird mit der Zeit fadenscheinig und schäbig, Herr Kommissar«, philosophiert Papadakis. »Nicht nur Klamotten und Wäsche, auch die Worte der Menschen und der Mythos ganzer Generationen… ›Es ist alles eitel‹, heißt es schon in der Bibel.«
Papadakis könnte bei Adriani eine Weiterbildung in weisen Sprüchen machen, sage ich mir. Der Junge hat Talent dazu.
Dann lasse ich ihn Kurs auf Lepeniotis’ Arbeitsplatz, das Amt für Schulbauplanung, nehmen.
Als wir uns ausweisen, schickt man uns in einen Raum in der zweiten Etage, in dem vier Schreibtische stehen. Drei davon sind verwaist, während am vierten eine Frau in den Vierzigern sitzt, die mit der Nase am Bildschirm ihres Computers klebt.
Sie empfängt uns mit einem flüchtigen, gleichgültigen Blick. Papadakis legt ihr dar, wer wir sind und warum wir uns in ihrem Büro befinden. Ihre einzige Reaktion ist ein lahmes »Ah, ja«.
»Haben Sie nicht mitbekommen, dass Lepeniotis ermordet wurde?«, fragt Papadakis sie.
»Doch.«
»Und das lässt Sie völlig kalt?«, wundert er sich.
Die Frau blickt von ihrem Computer auf.
»Ich will Ihnen lieber sagen, welche Dinge mir wirklich wichtig sind. So zum Beispiel die Tatsache, dass ich in diesem Land noch immer Arbeit habe«, erwidert sie. »Und dass ich immer noch die Nachhilfe für meinen Sohn bezahlen kann. Ich danke dem Herrgott jeden Tag, dass meine Eltern mit ihrer zusammengestrichenen und abgewerteten Rente immer noch über die Runden
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