Abschied aus deinem Schatten
seine dreiundsechzig Jahre, das Haar noch voll, wenn auch silberfarben, die Augen vom selben Graublau wie Rowenas, kaum Falten im Gesicht. „Wie geht es deiner Familie?”
„Es geht allen prächtig, Rowlie.” Er setzte sich und nahm wieder ihre Hand.
„Erzähl mir von ihnen.”
„Gwyn ist jetzt siebenundzwanzig und Grundschullehrerin in Boston. Derek ist soeben fünfundzwanzig geworden und promoviert gerade in Volkswirtschaftslehre an der Universität von Yale. Rosie und ich, wir sind beide noch als Anwälte tätig, haben aber vor, die Kanzlei in ein, zwei Jahren zu schließen. Das alte Haus steht noch – mit knapper Not –, und ein Gästezimmer wartet auf dich.”
„Ich würde so gern kommen und alle kennen lernen.”
„Das wirst du auch, bestimmt. Alle sind schon ganz gespannt auf dich, Rowlie. Sie lassen dich herzlich grüßen und wünschen dir gute Besserung”
„Jeanne hat gelogen. Aber ich habe die Briefe gefunden.”
„Ich weiß. Mark hat mich unterrichtet – über die arme Claudia und über alles, was sich in jüngster Zeit zugetragen hat.”
„Sie hat sich nicht umgebracht.”
„Vielleicht nicht. Aber ich glaube nicht, dass es dir gut tut, wenn du dich jetzt darüber aufregst.”
„Erzähl mir von Jeanne, Dad!”
„Was soll ich dir denn erzählen, mein Kleines?”
Alles.”
Er lachte verhalten und schüttelte den Kopf. „Das würde Tage dauern.”
„Wusstest du denn von ihrer Trunksucht?”
„Sicher! In der Beziehung waren wir alle keine Kostverächter. Wir kamen überhaupt nicht auf den Gedanken, dass Trinken ein Problem sein könnte. Es war natürlich eins, doch es dauerte verdammt lange, bis ich das kapierte. Deine Mutter hatte von Anfang an Alkoholprobleme. Nur war ich zu jung, um das zu erkennen, und auch zu jung, um damit umgehen zu können. Ihre Cocktails hatte sie sich immer schon gern genehmigt, und sie konnte auch durchaus einiges vertragen. Doch nach deiner Geburt verfiel sie ganz und gar dem Schnaps. In der Familie ihres Vaters gab es viele Trinker. Den alten DeVilliers, deinen Großvater, raffte die Leberzirrhose hin, genau wie einen seiner Brüder und mehrere Schwestern. Jeannes ältere Schwester Genevieve war schon mit achtzehn eine hoffnungslose Säuferin. Sie hätte wahrscheinlich gar nicht so lange gelebt, wäre sie nicht finanziell abgesichert gewesen – dank des Treuhandfonds auf Lebenszeit, den DeVilliers für sie eingerichtet hatte.”
„Wie ist sie denn eigentlich umgekommen? Laut Nachruf starb sie nach kurzer Krankheit, wie es hieß.”
„Genevieve war sehr labil und griff beim kleinsten Anlass zur Flasche. Jedenfalls ließ sie sich nach Aussage deiner Großmutter während eines Winters einmal dermaßen voll laufen, dass sie im Suff vergaß, die Thermostate für die Heizung im Haus aufzudrehen. Es gab einen mächtigen Schneesturm, und während sie ihren Rausch ausschlief, froren die Heizungsrohre ein und platzten. Der gesamte Kasten wurde überflutet. Irgendwann kam sie gerade so lange zu sich, dass sie halb angezogen und barfuß nach unten tappen konnte, um sich Nachschub zu besorgen. Dabei muss sie klatschnass geworden sein. Man fand sie später auf der Couch, zugedeckt mit einem Afghanenteppich, eine leere Whiskyflasche im Arm. Im eigenen Haus erfroren. Furchtbar.”
„Warum hast du Jeanne geheiratet?”
Für einen Moment verlor sein Blick sich ins Leere. „Weil sie so schön war, mein Schatz. Kultiviert und auch ein wenig … gefährlich, denke ich. Ich war jung und leicht zu beeindrucken und geradezu verrückt nach ihr. Ihre Mutter Leila, eine sehr anständige Frau, riet mir dringend von ihr ab, doch ich hörte natürlich nicht hin. Kein Mensch tut das, besonders dann nicht, wenn er mit der Wahrheit konfrontiert wird. Und ich wusste, es stimmte, was Leila sagte. Sie hatte Recht, als sie mich damals in dem Haus in Greenwich bekniete und mir bedeutete, es sei ein großer Fehler, ihre Tochter zu heiraten. Ich wusste aber, dass ich es trotzdem tun würde, egal, was passierte. Weil ich dachte, sie würde sich ändern. Ich glaubte, ich könne sie ändern. Jugendliche Selbstüberschätzung vielleicht oder schlichte Dummheit. Gar nichts konnte ich ändern, nichts und niemanden, und deine Mutter machte auch keinerlei Anstalten in dieser Richtung. Im Gegenteil, ihre Trunksucht verschlimmerte sich. Schließlich hielt ich es nicht mehr aus und ging fort, denn eins hatte ich mittlerweile endlich begriffen: Wenn ich blieb, dann würden wir allesamt
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