Abschied aus deinem Schatten
Butter.
„Man hat immer nur an einzelnen Symptomen beziehungsweise Problemen herumgedoktert. Das Gesamtbild kannte ja keiner! Außerhalb der Familie hätte das auch niemand erkennen können. Ich will dir einige Beispiele nennen. Als Kind war sie so extrem unaufmerksam und unkonzentriert, dass sie schon zu zappeln begann und weg wollte, ehe man überhaupt richtig begonnen hatte, ihr etwas zu erzählen. Wären Taschenrechner nicht erfunden worden, hätte sie niemals ein paar simple zweistellige Zahlen addieren können. Ihre Handschrift war eine Katastrophe. Am auffälligsten allerdings war ihr absolutes Desinteresse gegenüber den Gefühlen anderer. Wie sie empfanden, konnte Claudia sich überhaupt nicht vorstellen, und obendrein war es ihr ohnehin egal. Mittlerweile bin ich davon überzeugt, dass die meisten ihrer Verhaltensweisen keineswegs natürlich, sondern schlicht nachgeahmt waren. Dumm war sie zwar nicht, doch dort, wo sich eigentlich ihre Gefühlsregungen befinden mussten, klafften nur gähnende Lücken. Hinzu kommt noch, dass sie es einfach nicht fertig brachte, auch mal auf etwas, das ihr gefiel, zu verzichten.”
„Und dein Vater hat die Trunksucht deiner Mutter bestätigt?”
„Hundertprozentig.” Sie löffelte den Teller leer. „Köstlich, die Suppe!”
„Danke. Möchtest du noch?”
„Im Moment nicht, danke.”
„Du meinst, Jeanne wusste, was sie Claudia angetan hatte?”
„So ganz genau nicht. Anfangs, scheint mir, machte sie sich Vorwürfe, weil sie kein drittes Kind hatte haben wollen. Claudia entstand eher als ungewolltes Nebenprodukt von Jeannes Versuch, das Interesse meines Vaters an ihr wieder anzustacheln. Später allerdings muss sie geahnt haben, dass mit Claudia etwas nicht stimmte, wodurch die Schuldkomplexe sich noch verschlimmerten, was sie wiederum auf völlig übertriebene Weise kompensierte. Aus meiner Sicht merkte auch Claudia, dass bei ihr etwas nicht mit rechten Dingen zuging, und lastete es unserer Mutter an. Nachdem mein Vater gegangen war, setzten die zwei dieses krankhaft komplizierte Verhältnis fort. Sie waren in dieser abstoßenden und widerwärtigen Hassliebe so aufeinander angewiesen, dass man die Gegenwart der beiden einfach nicht ertrug. Ich weiß, vieles von dem, was damals passiert ist, habe ich schlichtweg verdrängt und vor dem Rest die Augen verschlossen.”
„Dann nimmst du ihren Selbstmord jetzt also doch als gegeben hin?”
„Auf keinen Fall! Was ich dir gerade geschildert habe, berührt den Selbstmord nur am Rande. Mag sein, dass es indirekt mit ihrem Tod zu tun hat, aber dass Claudia sich umgebracht hat, nein, das akzeptiere ich noch immer nicht.”
„Ach, Rowena, hörst du denn nie auf?” fragte er gereizt.
„Doch, doch. Nicht mehr lange. Ich bin ganz nah dran.”
„Fertig mit Essen? Zeit für die Seifenopern! Und dann steigt unser Schatz in die Wanne und macht sein Schläfchen.”
„Jawohl, Chef!”
Rowena nickte schon halb in der Badewanne ein, als sie Marks Stimme auf der anderen Seite der Tür vernahm. „Allmählich müsstest du rauskommen. Schaffst du’s allein, oder soll ich dir helfen?”
„Ich glaube, ich kriege es hin.”
Zwar dauerte es seine Zeit, doch schließlich gelang es ihr, aus der Wanne zu steigen. Allerdings musste sie sich setzen, um sich abzutrocknen und den Pyjama anzuziehen.
„Alles in Ordnung da drin?” fragte Mark besorgt.
„Hängt davon ab, was du unter ‚in Ordnung‘ verstehst”, gab sie zurück. „Aus dem Wasser und angezogen bin ich jedenfalls.”
„Alles klar.” Er trat ein, hob sie von dem kleinen emaillierten Hocker und trug sie zum Schlafzimmer. „Ab in die Federn”, befahl er, während er sie in die Kissen bettete.
„Ich komm mir ja vor wie ein Kleinkind”, beschwerte sie sich.
„Dann genieße es, denn ewig wird es nicht dauern. Schlaf gut!”
Als sie beim Aufwachen automatisch zur Uhr sah, bemerkte sie den Zettel, den Mark gegen das Ziffernblatt gelehnt hatte. „Bin nach Hause. Komme zum Abendessen zurück.”
Schmunzelnd nahm sie den Zettel weg. Es war Viertel nach fünf; ein wenig konnte sie wohl noch die Augen zumachen. Also dämmerte sie wieder in den Schlaf hinüber.
Das zweite Mal wachte sie auf, weil ihr Mark mit dem Finger auf die Nasenspitze tippte. „Zeit, dass du nach unten umsiedelst. Zum Dinner gibt es leckere Pasta mit frischem Mozzarella und geräuchertem Hühnchen.”
„Warum lässt du mich nicht schlafen, bis alles fertig ist?”
„Sag mal, für wen
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