Abschied aus deinem Schatten
abwartete, was er wohl zu sagen hatte. Irgendwie wurde sie das Gefühl nicht los, dass sie ein ziemliches Desaster angerichtet hatte.
„Ein abgekartetes Spiel war das”, bemerkte er nach einiger Zeit. „Leider habe ich das erst verhältnismäßig spät gemerkt.” Angewidert schüttelte er den Kopf. „Im letzten Herbst sprach sie wegen eines Notfalls auf meine Mailbox. Als ich zurückrief, berichtete sie mir, sie habe schwere Depressionen und müsse dringend mit jemandem sprechen, sonst bringe sie sich um. Obgleich sie nicht mehr bei mir in Behandlung war, willigte ich ein und sagte ihr zu, sie aufzusuchen und ein Gespräch mit ihr zu führen.” Wieder sah er Rowena an, wandte jedoch diesmal den Blick nicht ab. „Ich habe es ihr abgenommen. Sie klang tatsächlich suizidgefährdet, betete mir sämtliche Medikamente vor, die sie verschrieben bekommen hatte, und wollte sie alle auf einmal mit Gin oder Wodka hinunterspülen. So genau weiß ich nicht mehr, welches Getränk sie erwähnte. Tut auch nichts zur Sache. Sie habe bereits alles vorbereitet, sagte sie weiter, und es gebe eigentlich nicht den geringsten Grund, wieso sie nicht Schluss machen solle. Am Telefon klang sie todernst, sodass es mir kalt den Rücken herunterlief. Also bin ich im Eiltempo hingefahren.”
Rowena schüttelte sich. Was sie da hörte, hatte sie so nicht erwartet. „Erzählen Sie weiter”, bat sie leise, betroffen von seinem Gesichtsausdruck. Offenbar war er von sich selbst angewidert, ein Gefühl, dass sie nur zu gut kannte. Sie hätte es ihm gern gesagt. Doch das musste warten.
„Bei meiner Ankunft stand die Haustür offen, was mir schon einigermaßen seltsam vorkam. Ich rief ihren Namen. Sie sei oben, antwortete sie mit kaum hörbarem Stimmchen. Also rannte ich die Treppe hinauf. Sie räkelte sich splitternackt auf dem Bett, kicherte vor Vergnügen und amüsierte sich darüber, dass ich mich hatte herlocken lassen. Ich war außer mir und sagte ihr gehörig die Meinung, aber dann fiel sie regelrecht über mich her.” Kopfschüttelnd starrte er in seinen Kaffeebecher. „Und selbst bei dem, was dann folgte, hatte ich eine ungeheure Wut auf uns beide – auf sie, weil sie mich hereingelegt hatte, und auf mich, weil ich auf sie hereingefallen war und mich auch noch von ihr herumkriegen ließ. Mach, dass du fortkommst, und zwar schleunigst, habe ich mir immer wieder gesagt. Aber … ich konnte nicht widerstehen.”
Seufzend schüttelte er den Kopf. „Danach habe ich ihr verboten, mich jemals wieder anzurufen. Dann bin ich eiligst davon. In der nachfolgenden Woche ging die Sache mit den Anrufen los und entwickelte sich zu einem Albtraum. Sie hörte einfach nicht auf! Zwanzig, dreißig Mal am Tag rief sie in der Praxis an, außerdem allabendlich bei mir zu Hause. Sie ließ sich sogar über die Rufumleitung auf meinen Pieper durchstellen, wenn ich mal ausging, um dem Telefon für einige Zeit zu entrinnen. Wochenlang ging das so, bis ich beschloss, eine einstweilige Verfügung gegen sie zu erwirken. Da hörte der Spuk mit einem Mal auf. Ich konnte es zunächst gar nicht fassen. Doch es vergingen tatsächlich Tage und Wochen, ohne dass sie anrief. Es war ungefähr so, als säße man im Gefängnis, und auf einmal wird einem die Strafe erlassen. Ich war sie los! Einfach so! Ich habe versucht, die ganze vermaledeite Geschichte zu vergessen, sie mir einfach aus dem Kopf zu schlagen. Von Claudia habe ich nie wieder etwas gehört – bis Sie mich über ihren Tod informierten.”
Rowena wusste nicht, was sie sagen sollte. Sicher, nun hatte sie endlich die Wahrheit erfahren. Doch das war ja nicht alles. Wie sie Reid allerdings den Rest beibringen sollte, das war ihr unerfindlich. Außerdem war sie sich gar nicht sicher, ob sie es überhaupt wollte.
„Wieso haben Sie so getan, als seien Sie dadurch geschädigt worden?” Sowohl seine Miene als auch seine Stimme wirkten resigniert. „Im Grunde haben Sie doch nichts damit zu tun und erst recht keinen Schaden davongetragen!”
„Ich
habe überhaupt nicht so getan! Sie, Sie haben unter Vortäuschung falscher Tatsachen gehandelt!”
„Wie das? Weil ich mich zu einer kapitalen Dummheit hinreißen ließ? Zu einer einzigen, unappetitlichen Intimität mit einer Frau, die zufällig Ihre Schwester war? Und wieso soll meine Diagnose gelogen sein? Wenn Sie schon Ihrem Herzen Luft machen, dann bitte richtig!”
„Bezüglich Ihrer Diagnose habe ich mich versprochen. Gelogen haben Sie nicht, sondern
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