Abschied aus deinem Schatten
willst. Denn anders als in den netten Märchen, die man uns löffelweise mit unserem Bananenbrei eingetrichtert hat, kann man nämlich viel zu früh sterben, lange vor dem Zeitpunkt, wo man eigentlich dran wäre. Willst du also den Nachtisch vor dem Hauptgericht verspeisen, nur zu! Willst du in der Lebensmitte plötzlich etwas Neues beginnen – nichts dagegen! Solange es niemandem schadet, tu um Gottes willen, was dir Spaß macht. Für dieses Recht würde ich sogar auf die Straße gehen! Und mach es heute, denn morgen ist es vielleicht zu spät.”
Rowena nahm seine Hand. „Danke”, sagte sie leise.
„Und setz dich endlich in den verdammten Mercedes, sonst schnappe ich ihn mir!”
Sie lächelte. „Mal sehen.”
Bis Ende April hatte sie sich mit Ian auf einen Dienstplan für das Lokal geeinigt. Montagabends war geschlossen; von Dienstag bis Donnerstag stand Ian an den Abenden am Empfang, und Rowena übernahm an den Wochenenden. Für sie kam noch die Mittagsschicht hinzu, und zwar durchgehend von montags bis sonntags, insgesamt eine Arbeitszeit von einunddreißig Stunden – für Rowenas Verhältnisse keine allzu erdrückende Belastung. Darüber hinaus wurde ein zusätzlicher Kellner als Teilzeitkraft eingestellt, der an den Wochenenden für den Lunch zur Verfügung stand und auch kurzfristig für das Stammpersonal einsprang, falls Not am Mann war.
Anfang Mai, an einem Sonnabend, nachdem ihre Sachen endlich von der Wohnung zum Haus transportiert worden waren, ließ Rowena sich bei der Mittagsschicht von Scott, dem neuen Teilzeitkellner, vertreten, um bei Marks Einzug in das neue Apartment über der Garage dabei sein zu können.
Zunächst verlud ein halbes Dutzend Umzugshelfer aus dem beiderseitigen Bekanntenkreis, Penny und ihr Sohn Kip eingeschlossen, Marks Siebensachen in einen Mietlaster. Danach verteilte man sich auf mehrere Pkws und folgte dem Möbelwagen bis zum Haus. Dort wartete Rowena bereits mit einer riesigen Kühlbox voller Bier und alkoholfreier Getränke sowie mit einem Imbiss, den sie in den frühen Morgenstunden zubereitet hatte.
Alle zeigten sich von Marks neuem Domizil beeindruckt, und man streifte sich, bevor man den Fuß auf den frisch verlegten Teppichboden setzte, geflissentlich die Schuhsohlen auf der Fußmatte ab. Die hohe, spitz zulaufende Decke mit dem Oberlicht, die offene, großzügige Küche mit der indirekten Beleuchtung, der Turm aus Waschmaschine nebst Wäschetrockner – all das wurde gebührend bestaunt. Ein strahlender Mark, angetan mit blendend weißem Maler-Overall, gelbem T-Shirt und orangefarbenen, fluoreszierenden Basketballstiefeln, führte voller Stolz das geräumige neue Badezimmer mit den handbemalten Kacheln vor, dazu seine maßgefertigten Kleiderschränke und den Schlafbereich, der sich auf einer stufenförmig erhöhten Ebene im rückwärtigen Teil des Apartments befand. Er ließ sich durch Lamellentüren, die man flach zu beiden Seiten gegen die Außenwände schieben konnte, vom übrigen Wohnbereich abtrennen.
In knapp zwei Stunden war der Laster ausgeräumt und die Möbel an Ort und Stelle platziert. Penny, die sich wegen des kleinen Streits weiterhin ausgesprochen distanziert gab, half Rowena dabei, den Imbiss auf der Küchenarbeitsplatte anzurichten. Als Rowena sie ansprach, beschränkte sie sich auf einsilbige Kurzantworten und vermied bewusst jeglichen Blickkontakt. Rowena war zwar gekränkt, tat aber so, als bemerkte sie nichts und beschäftigte sich eingehend mit der übergroßen Kaffeemaschine, die sie aus ihrer Küche mitgebracht hatte. Als der Kaffee endlich durchlief, hatte Penny sich bereits mit ihrem Teller zu Marcia, einer Kollegin aus der Bibliothek, verzogen.
Rowena ließ sie gewähren und setzte sich mit ihrer eigenen Portion zu Mark, der gerade einen Karton mit Musikkassetten und CDs nach der angemessenen Begleitmusik durchwühlte.
Kip, der in der einen Hand eine Dose Bier und in der anderen einen randvoll beladenen Teller hielt, gesellte sich zu ihnen. „Mensch, Onkel Mark, geile Bude, echt!”
„Freut mich, dass sie dir gefällt!”
„Echt krass!” versicherte Kip todernst.
Mark grinste und legte eine Kassette ein. „Dann ziehen wir uns erst mal was zu mampfen rein, was?”
„Aber hallo!” Kip war einverstanden und ließ sich auf dem Fußboden nieder, während die Beatles mit „Sergeant Pepper’s Lonely Hearts Club Band” aus den Lautsprechern tönten und alle Anwesenden – außer Penny, wie Rowena bemerkte – lächelnd
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