Abschied nehmen
still und mit zitternden Knien bewältigte sie die drei Stufen und blieb schließlich stehen. Die Welt um sie herum drehte sich und in ihrem Magen lag ein riesiger, kalter Klumpen. Sie spürte noch, wie ihr Vater sie auffing, eh sie den Boden berühren konnte, spürte, wie seine starken Arme sie aufhoben, hörte, wie er seinen Männern Befehle zurief, doch dann wurde die Welt um sie herum schwarz und sie hörte und sah nichts mehr.
Als Marcus am folgenden Nachmittag Williams Zelle betrat, erschrak er bei dem Anblick seines Freundes.
William hatte nach der brutalen Behandlung durch Wentworth bereits schlimm ausgesehen, sein heutiger Anblick schlug dies jedoch um Längen. Er hatte keine neuen Wunden, sowohl Wentworth als auch die Wächter hatten auch heute die Finger von ihm gelassen, und die, die er hatte, hatten bereits vor ein paar Tagen zu heilen begonnen. Und trotzdem hatte Marcus ihn noch nie so elend gesehen.
Tiefe, dunkle Ringe zeichneten sich unter zwei tieftraurigen Augen ab. Seine Lippen waren rissig, sein Haar stand ihm wirr vom Kopf ab, als hätte er sich die ganze Nacht die Haare gerauft.
„Wie geht es Kate?“, fragte er unvermittelt, noch eh Marcus sich gesetzt hatte und ein flehender Blick empfing ihn, als er sich niedergelassen hatte.
Das Clansoberhaupt maß seinen Freund einen Augenblick lang, innerlich abwägend, ob er ihm nun die Wahrheit sagen sollte oder nicht. Doch so, wie William aussah, spürte er ohnehin, wie es Kate ging und außerdem hielt Marcus nichts davon, seinen Freund zu belügen.
So blickte er ihn an. „Es könnte ihr besser gehen.“ Ein zerknirschtes Lächeln huschte über seine Lippen. „Sie ist sehr traurig, schläft viel.“
Die Antwort war weiß Gott keine Überraschung für William, trotzdem senkte er tief seufzend den Blick. Ein paar Sekunden verweilte er so, doch dann blickte er plötzlich wieder auf.
„Ihr müsst ihr helfen, Marcus!“, stieß er beschwörend hervor. „Allein schafft sie das nicht!“, setzte er noch nach, und als er die Hände nach seinem Freund ausstreckte, musste Marcus feststellen, dass seine vorherige Einschätzung nicht ganz richtig gewesen war.
William hatte sehr wohl neue Wunden, seine Knöchel waren blau und blutig, doch diese Verletzungen stammten nicht von einer Auseinandersetzung mit den Wachen. Nein, er hatte gegen sich selbst gekämpft, gegen seine Gedanken, seine Dämonen und die Wände waren seine stummen Gegner gewesen.
Marcus schluckte und blickte zu ihm hinunter.
„Mach dir keine Sorgen, William. Wir sorgen für sie, du weißt, dass wir alle für sie da sind“, erwiderte er und als er in Williams noch immer ausgestreckte Hand einschlug, weiteten sich seine Augen vor Schrecken.
„Herr Gott, William, du glühst ja!“, rief er aus, schockiert über die Hitze, die sein Freund ausstrahlte und nun als er das Fieber in ihm toben spürte, erkannte er auch die anderen Anzeichen. Sein Blick war glasig und die Lippen rissig, und auch wenn er dies schon vorher bemerkt hatte, hatte er es keinesfalls einem Fieber zugeschrieben.
Nun legte er eine seiner großen Hände an Williams Stirn.
„Seit wann hast du es?“, fragte Marcus, während er William, der plötzlich Schüttelfrost bekam, in ihre beiden Plaids wickelte.
„Ich weiß es nicht genau. Es kam irgendwann diese Nacht“, erwiderte William, seine Zähne schlugen dabei aufeinander und Marcus überlegte fieberhaft, was er tun könnte.
„Ich gehe und frage die Soldaten nach Wasser, dann können wir dir kalte Wickel machen und vielleicht darf ich sogar noch mal herkommen und dir Medizin von Lilidh bringen!“ Er sprach schnell sein beunruhigter Blick schnellte durch die Zelle. Er hatte es schon mal geschafft, Williams Fieber zu senken, er würde es wieder schaffen, dachte er rastlos. Die Bedingungen hier waren sicher sehr viel schlechter als damals, doch es war nicht aussichtslos! Nicht unmöglich! Er würde ...
Etwas ließ ihn plötzlich innehalten.
Sowohl seine Gedanken als auch sein Blick kamen zum Stillstand, seine Erregung flaute ab und er erkannte, dass es Williams Augen gewesen waren, die ihm Einhalt geboten hatten. In ihnen lagen Ruhe und Gleichmut und der Anblick öffnete Marcus die Augen für die Wirklichkeit.
Er musste ihn nicht mehr retten, musste nicht versuchen, das Fieber
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