Acacia 02 - Die fernen Lande
dem Fluch beruht hatte, der ihnen den wahren Tod verwehrt hatte. Und dieser Fluch war von Tinhadin gekommen. Santoth-Zauberei. Als solche sollte sie auch in ihrer Macht sein. Immerhin hatten die Tunishni im Gespräch mit Hanish gefordert, dass er sie ermorden solle. Sie hatten ihr Ziel nicht erreicht. Stattdessen waren sie in den wirklichen Nachtod gegangen, genau wie Hanish. Corinn lebte immer noch und herrschte und hatte einen Sohn. Wer hatte also mehr Macht?
Dies war nur einer von unzähligen Gedanken, die sie nach dem Aufstand der Numrek und der Erklärung der Gilde, dass erneut ein Krieg über die Eiswüste kam, in ihrem Kopf wälzte. Sie hatte auf überraschende Weise eine Art schwankendes, ungestümes Gleichgewicht gefunden. Sobald sie wusste, dass Aaden in Sicherheit war – und das wusste sie so gewiss, dass sie die Sorge um ihn beiseiteschieben konnte –, ließ sie sich ruhig und bestimmt vom Lärm und dem Durcheinander der sich entwickelnden Ereignisse tragen.
Ihre Gelassenheit beruhte zu einem großen Teil auf der Erkenntnis, dass sie die ganze Zeit gewusst hatte, dass so etwas geschehen würde. Aus diesem Grund hatte sie in ihrer Wachsamkeit auch nicht nachgelassen, obwohl sie – durch Menas Begeisterung und Graes Aufmerksamkeit dazu verleitet – durchaus versucht gewesen war, sie kurzzeitig zu vergessen. Ja, sie hatte sich sogar Vorstellungen von einer edleren Gesinnung ihrer Herrschaft hingegeben und geglaubt, sie könne das Volk weiterhin unbetäubt lassen und Mittel und Wege finden, einige von Alivers hehren Idealen zum Leben zu erwecken. So sehr sie die Macht in einer Hand gehalten hatte, hatte sie dennoch versucht, die zur Faust geballte andere Hand zu lockern. Das war ein Fehler gewesen. Schon allein die Finger zu rühren, um diese Möglichkeiten zu bedenken, hatte eine Katastrophe heraufbeschworen. Deswegen war sie unvorbereitet gewesen und hatte die Verräter so lange nicht gesehen, die direkt hinter ihr gestanden hatten. Deshalb war Aaden beinahe ums Leben gekommen.
Unverzeihlich.
Als es direkt vor ihren Augen zu Gewaltausbrüchen gekommen war, hatte sie nichts anderes getan als zugesehen. In jenem Moment war sie vollkommen unvorbereitet gewesen. Während Mena gekämpft hatte, hatte sie selbst nur dagestanden und auf die Szenerie gestarrt. Das durfte nie wieder geschehen. Sie war nachlässig mit ihren Studien der Zauberei umgegangen. Ihre Zeit damit zu verbringen, pelzige Kreaturen für Aaden heraufzubeschwören? Glückseligkeitssprüche bei Banketten zu weben und fliegende Insekten zu erschaffen? Torheit! Selbst als sie Nord-Talay Wasser geschenkt hatte, war das aus den falschen Gründen geschehen. Es war dringend nötig gewesen, ja, aber sie hatte viel zu sehr den Beifall der Massen genossen. Sie hatte sich daran ergötzt, die Mutter des Reiches genannt zu werden – und was war das anderes als ein Titel, den zu benutzten sie selbst ihrem Volk befohlen hatte? Nein, die Wahrheit war, dass sie Zeit vergeudet hatte. Dass sie Macht verschwendet hatte.
Solche Nachlässigkeit war vollkommen und zutiefst unverzeihlich. Sie schwor sich, dass sie niemals wieder so schwach sein würde, und staunte gleichzeitig, dass sie sich so viel von der Kraft hatte entgleiten lassen, die ihr geholfen hatte, nach der Macht zu greifen und die Bekannte Welt aus Alivers Krieg heraus- und zum Wohlstand zurückzulenken. Sie musste sich jetzt an den Menschen erinnern, der vor neun Jahren den Thron erklommen hatte. Sie musste wieder zu diesem Menschen werden, von ihren Erfahrungen gehärtet, die Mutter eines Kindes, das sie vor jeglichem Schaden bewahren würde.
Dazu gehörte auch, das wirkliche Ausmaß der Bedrohung zu bestimmen, die auf sie zukam. Konnte sie der Schilderung der Gilde trauen? Wohl kaum. Mochte Sire Dagon seine vollkommene und äußerste Ehrlichkeit so lange bekunden, bis er heiser wurde, sie musste noch andere Quellen hören, ehe sie entschied, wie sie handeln würde. Und eine Traumreise schien die einzige Möglichkeit zu sein. Zumindest war es einen Versuch wert.
Als sie es das erste Mal versuchen wollte, schickte sie ihre Dienerinnen hinaus und bereitete den Raum selbst vor. Sie drehte die Lampen herunter, entzündete Weihrauch und ließ eine Mixtur aus beruhigenden Kräutern in duftendem, mit Zitronensaft aufgegossenem Öl vor sich hin köcheln. Anschließend zog sie ein förmliches Gewand aus dunkelgrünem Samt an, hochgeschlossen und mit langen Ärmeln. Kurz danach lag sie auf dem
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