Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Achsenbruch

Achsenbruch

Titel: Achsenbruch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reinhard Junge
Vom Netzwerk:
doch mal was für dein Geld und berichte uns, was sich da unten so tut.«
    Einen Augenblick lang herrschte eine gefährliche Stille, und Susanne, die noch an ihrem Campingtisch saß, blickte beunruhigt von ihrer Arbeit auf. Die Art und Weise, wie Mager an diesem Tag seinen Sohn herumkommandierte, hätte ihm in einer normalen Firma eine Abmahnung wegen Mobbings eingetragen.
    Doch Kalle war die Ruhe selbst. Immerhin hatte er in den letzten Jahren mit dem PEGASUS-Job sein komplettes Studium an der Uni Bochum finanziert. Sein Pech bestand darin, dass der Bedarf an Lehrern mit der Fächerkombination Geschichte und Philosophie derzeit äußerst gering war. Hinzu kam, dass Kalles Forschungen ein recht einseitiges Interesse verrieten: Er hatte sich vor allem um die Historie und die Gedankenwelt von Rebellen, Ketzern und Anarchisten gekümmert.
    Den Prüfern im ersten Staatsexamen war dieses Schmalspurwissen gerade mal ein knappes Befriedigend wert gewesen, sodass Kalles Chancen, in den Schuldienst berufen zu werden, gegen null tendierten. Zum Ausgleich hatte er nach langer Suche einen Doktorvater für eine Arbeit über die volkstümlichen Räuberbewegungen des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts gefunden. Die Arbeit an seiner Dissertation über Leute wie den Schinderhannes und den Stülpner Karl finanzierte er damit, dass er weiterhin die Drecksarbeit bei PEGASUS erledigte.
    »Kalle!«, quengelte Mager. »Ich höre nichts!«
    »Pardon, Väterchen«, hörte Susanne ihren jüngsten Mitarbeiter säuseln. »Ich musste erst meine Eindrücke ordnen …«
    Mager richtete sich auf und sah seinen Sohn alarmiert an.
    »Ich sehe«, reportierte Kalle ungerührt, »eine wunderschöne Sommerlandschaft am Rande einer westfälischen Großstadt: Hochhäuser am Horizont, satte Baumwipfel in Augenhöhe und tief unter mir eine saftige Wiese.«
    Kalle grinste, pflückte aus Magers Brusttasche Zigaretten und Feuerzeug und gönnte sich eine von den Harten, die sein Vater seit beinahe vierzig Jahren rauchte.
    »Außerdem«, fügte er hinzu, »habe ich im Moment eine faszinierende Vision.« Sein Blick glitt senkrecht vom Balkon an der Hauswand hinab.
    »Tief unter mir«, schilderte er in geradezu schwärmerischem Tonfall, »in dem satten Grün der Wiese, die dieses von Schimmel durchsetzte Haus umgibt, erkenne ich eine Einbuchtung. Insgesamt etwa einssiebzig lang, nicht ganz einen halben Meter breit, dreißig bis vierzig Zentimeter tief.«
    Grinsend drehte er sich jetzt zu seinem Erzeuger um, der gespannt lauschte.
    »Und in dieser Grube, da liegt ein alternder dicker Mann, die wässrigen Augen starr in den Himmel gerichtet, Bart, Brille und seine wenigen Tröpfchen Gehirnmasse ringsum auf dem Rasen verstreut. Und auf dem Bauch des Mannes liegt ein Schild mit der Aufschrift : Ich Blödmann habe meinen Sohn ein einziges Mal zu oft schikaniert.«
    Mager schwieg schockiert, aber Kalle war noch nicht fertig: »Väterchen, hast du vielleicht eine Idee, wie ein derart friedlicher Mensch wie ich zu solchen Visionen kommt?«
    9
    Nur mühsam gelang es Oberkommissarin Thalbach, die Oberbürgermeisterin vom Tatort wegzuführen. Sonnenschein wurde erst ein wenig ruhiger, als die Injektion wirkte, die ihr der Notarzt verpasst hatte.
    »Wissen Sie, wo Sie vorübergehend unterkommen können?«, startete Thalbach einen vorsichtigen Versuch, Sonnenscheins Trauernebel zu durchdringen. »Haben Sie Verwandte oder gute Freunde in der Nähe?«
    Die Lockenfrau blickte sie einen Augenblick so leer an, als wären diese Fragen völlig belanglos. Dann aber glitt ihr Blick an der Polizistin vorbei auf ihr ruiniertes Haus und erst langsam schien sie es zu realisieren: Sie hatte – zumindest für Wochen und Monate – kein Zuhause mehr. Ihre Mundwinkel zuckten.
    Mein Gott, dachte Thalbach, die ist voll hinüber. Und sie überlegte, ob sie nicht doch die Polizeipsychologin heranholen sollte, die schon so manchem Menschen über schlimme Erfahrungen hinweggeholfen hatte.
    Aber je länger die kleine Frau zu dem hinübersah, das mal ihr Zuhause gewesen war, desto mehr schien sie wieder in der Wirklichkeit anzukommen. Ihre Schultern bebten: »Was soll ich nur machen? Wo … wo soll ich denn jetzt wohnen?«
    Die Beantwortung der Frage wurde der Polizistin abgenommen: Ein nagelneuer kleiner Volvo mit zivilem Kennzeichen preschte heran und hielt dicht vor den beiden Frauen an. Heraus sprang Lina Tenberge, perfekt gestylt und energisch. Ohne Thalbach zu beachten, legte sie

Weitere Kostenlose Bücher