Acqua Mortale
Brocken Deutsch, in den letzten Monaten ein wenig Englisch gelernt. Vor allem aber kannte er den deutschen Reichsadler und die Symbole, die jede Uniform, jedes Geschütz, jedes Formular der Nazis zierten. In den Schränken fand er nicht eines davon. Er durchwühlte alle Ordner, alle Kladden und losen Papierstapel. In dem ganzen Archiv waren nur Schriftstücke der Alliierten.
Es war helllichter Tag, als Aroldo den Leinensack aus dem Kellerfenster schob und herauskletterte. Eine Frau sah ihn fragend an, aber es war ihm egal. Wenn man ihn verhaftete, dann bedauerte er das nur um Stefanos und Fiammas willen. Es würde seine Rache unnötig aufschieben. Trotz allem – er würde diesen italienischen Denunzianten und den SS ler finden, und wenn er ganz Italien und ganz Deutschland durchkämmen musste. Gerüchte gab es genug, wer denn die Kameraden ans Messer geliefert habe, aber auf Gerüchte durfte man nichts geben. Sie wollten besser sein als die Faschisten, und das hieß: sorg fältig, geduldig und gerecht.
44
Lunau erwachte aus einem unruhigen, kurzen Schlaf. Es war Dienstag, der 4. Mai, 6 Uhr 10. In knapp drei Stunden startete Lunaus Flugzeug von Bologna aus. Von der Straße kam ein sanftes Quietschen, der Wind fauchte in trockenen, harten Böen über das Fensterglas. Aber das war es nicht, was ihn geweckt hatte. Da war noch ein anderes Geräusch. Eine Art Ticken, in enervierend langen Abständen. Es kam aus dem Bad.
Lunau stand auf, ging ans Waschbecken und betrachtete den Tropfen, der allmählich anschwoll, ganz langsam, bis er zu erstarren schien. Lunau spürte so etwas wie Ungeduld, der Tropfen hing da, fett und ungerührt, gehalten von der Oberflächenspannung der Wassermoleküle. Plötzlich löste er sich, nahm kinetische Energie auf, indem er fiel. Und diese kinetische Energie verwandelte sich nach etwa vierzig Zentimetern Weg in Deformationsenergie: Der Tropfen zerplatzte und verformte durch den Aufprall das Keramik des Waschbeckens. Sowohl der explodierende Tropfen als auch die Verformung im Nanomillimeterbereich des Keramiks versetzten die Sauerstoff- und Stickstoffmoleküle in Schwingung, und diese Schwingungen erreichten Lunaus Außenohr, schlugen gegen das Trommelfell, pflanzten sich durch das Mittelohr fort und wurden durch die schneckenförmigen Windungen des Innenohrs an die Haarzellen geleitet, die ihrerseits elektrische Impulse an das Hirn sendeten.
Unfassbar, wie viele Nuancen unser Gehör zu unterscheiden versteht, dachte Lunau. Etwa 1500 Tonhöhen, selbst bei einem Laien, dazu über 300 Lautstärkenunterschiede.
Lunau schloss die Augen und konzentrierte sich auf den nächsten Tropfen. Es dauerte. Dann stand das ganze Badezimmer vor Lunaus innerem Auge. Und das absolut Verblüffende: Nicht das visuelle Gedächtnis erschuf das Bild, sondern das Gehör.Selbst ein Mensch, der dieses Badezimmer nie gesehen hatte, würde durch das Geräusch dieses einen Tropfens erkennen, dass er in ein Keramikbecken fiel, dass es in einem geschlossenen Raum passierte, in einem relativ kleinen Raum mit glatten, vermutlich gefliesten Wänden. Selbst bei einem Laien würde sich, zumindest unbewusst, das Bild eines tropfenden Wasserhahns in einem Badezimmer einstellen. Schuld daran ist das Gemisch der Schallwellen, die von den verschiedenen Materialien unterschiedlich reflektiert werden. Je enger der Raum, desto dichter die Überlagerungen, vor allem bei rechtwinkligen Wänden.
Lunau riss sich von seinen Gedanken los und ging unter die Dusche. Er hatte einen Tag Verspätung, aber wenn er heute gegen elf wieder in seinem Sender saß, würde ihm niemand Vorwürfe machen. Für den Vortag konnte er eine polizeiliche Vorladung zur Vernehmung vorlegen.
Vorher musste er allerdings nach Bologna fahren, den Leihwagen am Flughafen abgeben und Geschenke für Paul und Stefan besorgen. Wie immer würde er am Ende auch etwas für Jette kaufen, und Jette würde es entgegennehmen, ohne es auszupacken. Manchmal ließ sie beim nächsten Telefonat eine Bemerkung fallen, die nach Dank klang. Meistens ignorierte sie das Thema. Aber Lunau schaffte es einfach nicht, ihr nichts mitzubringen.
Er warf seine Sachen in den Koffer, räumte sein Audioequipment und den Laptop zusammen und schob die Kladden und die Aufnahmen aus dem Tresor in die Umhängetasche.
Nach einem letzten Kontrollblick ging er über den weichen, schallschluckenden Teppichboden hinunter an die Rezeption, gab die Schlüssel ab, zahlte die Rechnung und trat hinaus auf den
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