Adam Dalgliesh 14: Ein makelloser Tod
haben.
Oder er hat sie von Rhoda Gradwyn bekommen. Vielleicht hat sie die
Schlüssel bei ihrem ersten Besuch absichtlich mitgenommen, um sich
Kopien machen zu lassen. Und woher wollen wir wissen, dass er sich
nicht schon früher Zugang zum Manor verschafft und sich in einer der
unbewohnten Suiten am Ende des Patientenflurs versteckt gehalten hat?
Noctis muss dort gewesen sein, das beweist uns der Fetzen Latex, den
wir gefunden haben. Er könnte vor als auch nach dem Mord dort gewesen
sein. Kein Mensch hätte dort nach ihm gesucht.«
»Wer sie auch getötet hat«, sagte Benton, »ich bezweifle, dass
irgendjemand sie sehr vermissen wird, weder hier noch anderswo. Sie
scheint eine Reihe von Trümmerfeldern in ihrem Leben hinterlassen zu
haben. Der Archetyp der Sensationsreporterin – die exklusive
Story besorgen, das Honorar einstreichen, nach mir die Sintflut.«
Dalgliesh sagte: »Unser Job ist es, ihren Mörder zu finden,
nicht moralische Urteile über sie abzugeben. Auf diesem Weg kommen wir
nicht weiter, Sergeant.«
»Aber fällen wir nicht ständig moralische Urteile, Sir?«,
fragte Benton, »auch wenn wir sie nicht aussprechen? Ist es nicht von
Vorteil, so viel wie möglich über das Opfer zu wissen, Gutes wie Böses?
Menschen sterben aufgrund dessen, was sie sind und wer sie sind. Ist
das nicht Teil des Beweismaterials? Ich empfinde anders über den Tod
eines Kindes, eines jungen Menschen, eines unschuldigen Opfers.«
»Eines unschuldigen Opfers?«, erwiderte Dalgliesh. »Sie
glauben also, beurteilen zu können, welches Opfer den Tod verdient hat
und welches nicht? Ich vermute, Sie haben noch an keiner Untersuchung
eines Kindermordes teilgenommen.«
»Nein, Sir.« Warum fragen Sie das, wenn Sie das
sowieso schon wissen?
»Wenn das einmal der Fall sein sollte, dann werden Sie bei der
Gelegenheit so viel Schmerz begegnen, dass sich Ihnen ganz andere
Fragen aufdrängen, ethische und theologische, aber eine müssen Sie in
jedem Fall beantworten: Wer ist der Täter? Moralische Empörung ist
normal. Ohne sie wären wir keine Menschen. Aber ein Polizist, der vor
der Leiche eines Kindes, eines jungen Menschen, eines Unschuldigen
steht, läuft Gefahr, sich die Festnahme zur persönlichen Mission zu
machen. Das beeinträchtigt das Urteilsvermögen. Jedes Mordopfer
verdient dasselbe ungeteilte Engagement.«
Das weiß ich, Sir, wollte Benton sagen, und
das will ich Ihnen ja auch geben. Aber die Worte wären ihm
unecht vorgekommen, die Reaktion eines schuldbewussten Schuljungen auf
Kritik. Also schwieg er.
Kate brach das Schweigen. »Und wenn wir noch so viel
nachforschen, was erfahren wir am Ende wirklich? Das Opfer, die
Verdächtigen, der Mörder? Ich frage mich, warum Rhoda Gradwyn
hierhergekommen ist.«
»Um sich von ihrer Narbe zu befreien«, sagte Benton.
»Eine Narbe, die sie seit vierunddreißig Jahren mit sich
herumtrug«, sagte Dalgliesh. »Warum gerade jetzt? Warum in diesem Haus?
Warum hat sie die Narbe so lange gebraucht, warum wollte sie sich jetzt
auf einmal davon befreien? Wenn wir das wüssten, dann wüssten wir eine
Menge mehr über diese Frau. Und mit einem haben Sie recht, Benton, sie
ist aufgrund dessen gestorben, was sie war und wer sie war.«
Benton, nicht Sergeant – warum jetzt das? Ich
wünschte, ich wüsste eine Menge mehr über Sie, dachte er.
Aber auch so etwas machte die Faszination dieses Berufs aus. Er
arbeitete für einen Vorgesetzten, der ihm ein Rätsel war, und wohl
immer bleiben würde.
»War Schwester Hollands Benehmen heute Morgen nicht auch etwas
seltsam?«, fragte Kate. »Als Kim sie angerufen hat, um ihr zu sagen,
dass Miss Gradwyn noch nicht nach ihrem Tee verlangt hat, hätte sie
doch eigentlich selber nachsehen müssen, ob mit der Patientin alles in
Ordnung ist, statt Kim den Auftrag zu geben, den Tee nach oben zu
bringen? Ich frage mich, ob sie nicht dafür sorgen wollte, dass eine
Zeugin dabei ist, wenn sie die Leiche findet. Vielleicht wusste sie
schon, dass Miss Gradwyn tot war.«
»Chandler-Powell sagt, dass er Schwester Hollands Wohnung um
eins verlassen hat«, sagte Benton. »Wäre es da nicht normal gewesen,
wenn sie noch einmal nach der Patientin gesehen hätte? Vielleicht hat
sie es getan und wusste, dass Miss Gradwyn tot war, als sie Kimberley
bat, den Tee nach oben zu bringen. Es ist immer ratsam, einen Zeugen
dabeizuhaben, wenn man eine Leiche findet. Aber das heißt nicht, dass
sie die Mörderin ist. Wie ich bereits gesagt habe, kann ich mir
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