Adam Dalgliesh 14: Ein makelloser Tod
Chandler-Powell
behauptet steif und fest, um Punkt elf den Riegel vor die Tür zur
Lindenallee geschoben zu haben. Wenn der Mörder von draußen kam und
sich im Manor nicht auskannte, muss ihn jemand aus dem Haus
hereingelassen, ihn mit Handschuhen versorgt und ihm mitgeteilt haben,
wo er sein Opfer findet, und dieselbe Person könnte ihn auch wieder
hinausgelassen und die Tür hinter ihm verriegelt haben. Die größere
Wahrscheinlichkeit spricht für einen Mörder aus dem Haus, womit das
Motiv in den Vordergrund rückt.«
»Normalerweise ist es nicht klug, sich zu früh zu stark auf
das Motiv zu fokussieren«, sagte Dalgliesh. »Menschen töten aus den
unterschiedlichsten Gründen, die mancher Mörder selber nicht kennt. Wir
müssen auch die Tatsache in Betracht ziehen, dass Miss Gradwyn nicht
das einzige Opfer seiner Tat ist. Vielleicht richtete sie sich auch
gegen Chandler-Powell. Wollte der Mörder die Klinik zerstören, oder
hatte er gar ein doppeltes Motiv – Rhoda Gradwyn loswerden und
Chandler-Powell ruinieren? Es fällt schwer, sich eine wirksamere
Abschreckung vorzustellen als die brutale und scheinbar sinnlose
Ermordung eines Patienten. Chandler-Powell nennt das Motiv grotesk,
aber wir müssen es im Hinterkopf behalten.«
»Mrs. Skeffington zum Beispiel wird nicht wiederkommen, Sir«,
sagte Benton. »Es mag vielleicht unklug sein, sich zu früh zu stark auf
das Motiv zu fokussieren, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass
Chandler-Powell oder Schwester Holland einen ihrer Patienten umbringen.
Mr. Chandler-Powell hat offenbar erstklassige Arbeit bei der
Beseitigung der Narbe geleistet. Das ist sein Beruf. Würde ein
vernünftiger Mann das Werk seiner Hände zerstören? Genauso wenig kann
ich mir die Bostocks als Mörder vorstellen. Er und seine Frau haben
hier doch den bequemsten Posten der Welt. Würde Dean Bostock so einen
Job wegwerfen? Also blieben noch Candace Westhall, Mogworthy, Miss
Cressett, Mrs. Frensham, Sharon Bateman und Robin Boyton. Und soweit
wir das wissen, hat keiner von denen ein Motiv für den Mord an der
Gradwyn.«
Benton verstummte und sah sich um, aus Verlegenheit, wie Kate
vermutete, weil er einen Weg eingeschlagen hatte, auf dem ihm Dalgliesh
womöglich noch nicht folgen wollte.
Ohne Kommentar sagte Dalgliesh: »Also, fassen wir zusammen,
was wir bis jetzt wissen. Die Motive lassen wir erst mal beiseite.
Benton, fangen Sie an?«
Kate wusste, dass der Chef immer das jüngste Mitglied des
Teams aufforderte, die Diskussion zu beginnen. Bentons Schweigsamkeit
auf dem Weg hierher ließ vermuten, dass er schon eine Weile darüber
nachgedacht hatte, wie er beginnen sollte. Dalgliesh hatte nicht
anklingen lassen, ob er von Benton eine Rekapitulation der bekannten
Fakten, einen Kommentar oder beides erwartete, aber das war auch egal,
denn wenn er es nicht tat, würde sie es tun, und sie vermutete, dass es
genau dieser, nicht selten quicklebendige Austausch war, den Dalgliesh
wollte. Benton trank einen Schluck von seinem Wein. Auf dem Weg zur
Alten Wache hatte er sich zurechtgelegt, was er sagen wollte. Jetzt
versuchte er, sich kurzzufassen. Er gab einen Überblick über Rhoda
Gradwyns Beziehung zu Chandler-Powell und seiner Klinik im Cheverell
Manor, von der Verabredung in dessen Sprechzimmer in der Londoner
Harley Street am 21. November bis zum Tag ihres Todes. Man hatte ihr
die Wahl zwischen einem Privatbett im St. Angela's Hospital in London
und dem Cheverell Manor gelassen. Sie hatte sich für das Manor
entschieden, zumindest vorläufig, und war am 27. November zu einem
vorbereitenden Besuch hier erschienen; vom Hauspersonal war Sharon am
längsten mit ihr zusammen gewesen, als sie ihr den Garten zeigte. Das
war überraschend, denn eigentlich waren für den Kontakt mit den
Patienten die älteren Mitglieder des Personals oder die beiden
Chirurgen und Schwester Holland zuständig.
»Am Donnerstag, dem 13. Dezember, ist sie direkt in ihre Suite
hinaufgegangen, nachdem sie von Mr. Chandler-Powell, Schwester Holland
und Mrs. Frensham in Empfang genommen worden war. Alle sagen, sie war
absolut ruhig, offensichtlich völlig unbesorgt und nicht sehr
kommunikativ. Eine externe Pflegerin, Schwester Frazer, brachte sie am
nächsten Morgen in den OP hinunter, wo sie vom Anästhesisten untersucht
wurde, und anschließend wurde sie operiert. Mr. Chandler-Powell sprach
von einer komplizierten, aber erfolgreichen Operation. Bis halb fünf
ließ man sie im Aufwachraum liegen, danach wurde sie
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