Adam Dalgliesh 14: Ein makelloser Tod
mit den grauen Strähnen waren von einem guten
und – das sah Kate – teuren Friseur geschnitten
worden. Sie trug nicht das übliche Symbol der Bürokratie, eine
Aktentasche, bei sich, sondern eine große Stofftasche mit einer Kordel
und Riemen über der Schulter. Alles an ihr zeugte von ruhig und
selbstsicher ausgeübter Autorität. Sie erinnerte Kate an eine ihrer
Lehrerinnen, Mrs. Butler, die die gefürchtete Vierte in eine Gruppe
vergleichsweise zivilisiert handelnder Wesen umgewandelt hatte, indem
sie ihnen die Überzeugung vermittelte, dass in ihrer Gegenwart gar
nichts anderes möglich war.
Kate erkundigte sich höflich nach dem Verlauf der Reise. »Ich
hatte einen Fensterplatz und weder Kinder noch besessene
Mobiltelefonierer im Abteil«, antwortete Mrs. Rayner. »Das
Schinkensandwich aus dem Speisewagen war frisch, und ich habe die
Aussicht genossen. Genau so stelle ich mir eine angenehme Reise vor.«
Während der Fahrt sprachen sie nicht über Shirley, die jetzt
Sharon hieß, allerdings erkundigte sich Mrs. Rayner nach dem Manor und
den Leuten, die dort arbeiteten, sicherlich, um sich selbst ins Bild zu
setzen. Kate ging davon aus, dass sie erst auf das Wesentliche kommen
wollte, wenn Dalgliesh dabei war; es hatte keinen Sinn, alles doppelt
zu erzählen, außerdem hätten dabei leicht Missverständnisse entstehen
können.
In der Alten Wache lehnte Mrs. Rayner nach der Begrüßung durch
Dalgliesh den angebotenen Kaffee ab und bat um Tee, den Kate gleich
zubereitete. Auch Benton war gekommen, und die vier setzten sich um den
niedrigen Tisch vor dem Kamin. Dalgliesh hatte Rhoda Gradwyns Akte vor
sich und erklärte kurz, wie das Team von Sharons wahrer Identität
erfahren hatte. Er reichte Mrs. Rayner den Ordner, die das Bild von
Lucys zerschlagenem Gesicht kommentarlos betrachtete. Nach ein paar
Minuten aufmerksamen Studiums klappte sie die Akte zu und gab sie
Dalgliesh zurück.
»Es wäre interessant herauszufinden, wie Rhoda Gradwyn an
Teile dieses Materials gekommen ist«, sagte sie, »aber da sie tot ist,
hat es wohl wenig Sinn, eine Untersuchung anzustrengen. Zumindest wäre
das nicht meine Aufgabe. Auf jeden Fall ist über Sharon nichts
veröffentlicht worden, und solange sie minderjährig war, war es ohnehin
gesetzlich verboten.«
»Hat sie Ihnen ihre neue Arbeitsstelle und die
Adressenänderung mitgeteilt?«, fragte Dalgliesh.
»Nein. Das hätte sie natürlich tun müssen, und ich wiederum
hätte mich früher mit dem Altenheim in Verbindung setzen müssen. Wir
hatten unseren letzten Termin vor zehn Monaten, als sie noch dort
arbeitete. Sie musste ihren Umzug damals schon beschlossen haben.
Wahrscheinlich wird sie sagen, dass sie es nicht nötig fand, es mir zu
sagen. Und ich kann nur die übliche Entschuldigung vorbringen:
Arbeitsüberlastung und die Reorganisation nach der Neuaufteilung der
Zuständigkeiten im Innenministerium. Kurz gesagt: Sharon ist durchs
Raster gefallen.«
Durchs Raster gefallen, dachte Dalgliesh, das
wäre ein perfekter Titel für einen modernen Roman. »Sie
hatten keine besonderen Befürchtungen wegen ihr?«, fragte er.
»Nicht in dem Sinne, dass ich sie als Gefahr für die
Allgemeinheit gesehen hätte. Und wenn der Bewährungsausschuss anderer
Meinung gewesen wäre, hätte man sie nicht freigelassen. Im Moorfield
House gab es keine Schwierigkeiten mit ihr, und seit ihrer Entlassung
von dort gab es ebenfalls keine. Wenn mir etwas Sorge bereitet
hat – und immer noch bereitet –, dann ist es die
Suche nach einer befriedigenden und geeigneten Arbeitsstelle für sie.
Ich will ihr helfen, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Sie hat
sich immer geweigert, irgendeine Art von Ausbildung zu machen. Die
Stelle im Altenheim war keine langfristige Lösung. Sie sollte mit
Menschen in ihrem Alter zusammen sein. Aber ich bin nicht hier, um mit
Ihnen über Sharons Zukunft zu sprechen. Mir ist klar, dass sie ein
Problem für Ihre Ermittlungen darstellt. Wo sie auch hingeht, wir
werden sicherstellen, dass sie zur Verfügung steht, wenn Sie sie
befragen möchten. Hat sie sich bislang kooperativ gezeigt?«
»Es hat keine Probleme mit ihr gegeben«, antwortete Dalgliesh.
»Wir haben derzeit keinen Hauptverdächtigen.«
»Nun, hier kann sie jedenfalls nicht bleiben. Ich werde dafür
sorgen, dass sie in einem Heim unterkommt, bis wir etwas Dauerhaftes
für sie gefunden haben. Ich hoffe, ich kann sie in etwa drei Tagen
abholen lassen. Ich halte Sie natürlich auf dem
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