Adam Dalgliesh 14: Ein makelloser Tod
dass sie die Wahrheit sagen. Insbesondere Kim traue ich
nicht zu, sich so eine Geschichte auszudenken und so überzeugend zu
erzählen. Ich war jedenfalls voll und ganz überzeugt.«
»Ich zu dem Zeitpunkt auch, aber wir müssen offen bleiben. Und
falls es sich um Mord und nicht um einen Unfall handelt, dann müssen
wir eine Verbindung zu Rhoda Gradwyns Tod herstellen. Zwei Mörder im
selben Haus, das ist äußerst unwahrscheinlich.«
»Hat es aber auch schon gegeben, Ma'am«, entgegnete Benton
ruhig.
»Wenn wir allein die Tatsachen betrachten und das Motiv
vorübergehend ignorieren«, fuhr Kate fort, »dann sind die
Hauptverdächtigen Miss Westhall und Mrs. Frensham. Was haben sie in den
beiden Cottages gesucht, als sie die Schränke und dann die Gefriertruhe
geöffnet haben? Man könnte fast meinen, sie wussten, dass Boyton tot
war. Und warum mussten sie zu zweit suchen?«
»Was sie auch vorhatten, sie haben die Leiche nicht bewegt.
Alles deutet darauf hin, dass er dort starb, wo er gefunden wurde«,
sagte Dalgliesh. »Ich finde es aber nicht so merkwürdig wie Sie, Kate,
wie die beiden vorgegangen sind. Unter Stress handeln die meisten
Menschen irrational, und die beiden Frauen standen seit Samstag unter
Stress. Vielleicht haben sie im Unterbewusstsein einen zweiten
Todesfall befürchtet. Andererseits könnte es natürlich auch sein, dass
eine von ihnen sichergehen musste, dass die Gefriertruhe geöffnet
wurde. Das würde weniger auffallen, wenn die Suche bis dahin ebenso
gründlich durchgeführt wurde.«
»Mord hin oder her«, sagte Benton, »die Fingerabdrücke helfen
uns nicht sonderlich weiter. Alle beide haben die Gefriertruhe
geöffnet. Dafür könnte eine der Frauen gesorgt haben. Aber müsste es
denn überhaupt Fingerabdrücke geben? Noctis hätte doch sicher
Handschuhe getragen.«
Kate wurde ungeduldig. »Nicht wenn er Boyton bei lebendigem
Leib in die Gefriertruhe befördert hat. Hätten Sie das an Boytons
Stelle nicht ein bisschen merkwürdig gefunden? Und ist es nicht
verfrüht, das Wort Noctis zu benutzen? Wir wissen doch gar nicht, ob es
überhaupt Mord war.«
Die drei wurden langsam müde. Das Feuer brannte herunter, und
Dalgliesh beschloss, dass es an der Zeit war, die Diskussion zu
beenden. Er hatte das Gefühl, dieser Tag würde niemals zu Ende gehen.
»Wir sollten heute relativ zeitig zu Bett gehen. Morgen gibt
es viel zu tun. Ich bleibe hier, aber ich möchte, dass Sie, Kate,
zusammen mit Benton Boytons Partner vernehmen. Laut Boytons Aussage hat
er in Maida Vale gewohnt, daher müssten seine Papiere und all seine
Habseligkeiten dort sein. Wir kommen zu keiner Lösung, bevor wir nicht
wissen, was für ein Mensch er war und aus welchem Grund er hier war.
Konnten Sie schon einen Termin machen?«
»Er kann uns um elf Uhr empfangen, Sir«, antwortete Kate. »Ich
habe ihm nicht gesagt, wer von uns kommt. Er meinte nur, je eher, desto
besser.«
»Gut. Also um elf Uhr in Maida Vale. Und wir sprechen uns
noch, bevor Sie losfahren.«
Endlich wurde die Tür hinter ihnen abgeschlossen. Dalgliesh
stellte das Gitter vor das verglühende Feuer, blieb noch einen Moment
stehen und betrachtete das letzte Flackern, bevor er müde die Treppe zu
seinem Bett hinaufstieg.
Viertes
Buch 19. –
21. Dezember
London, Dorset
1
J eremy Coxons Haus in Maida Vale gehörte zu
einer Zeile hübscher edwardianischer Einfamilienhäuser, deren Gärten
zum Kanal hinunterführten. Es war ein nettes Puppenhaus, auf
Erwachsenengröße herangewachsen. Der Vorgarten machte trotz der
winterlichen Kargheit den Eindruck einer sorgfältigen Bepflanzung und
weckte Vorfreude auf den Frühling. Er wurde von einem gepflasterten Weg
geteilt, der zu einer glänzend lackierten Haustür führte. Auf den
ersten Blick konnte Benton das Haus nicht mit dem, was er von Robin
Boyton wusste oder von dessen Freund erwartete, in Zusammenhang
bringen. Der Fassade war eine gewisse feminine Eleganz eigen, und er
erinnerte sich, gelesen zu haben, dass die feinen Herren der
Viktorianischen und Edwardianischen Zeit hier in dieser Gegend Häuser
für ihre Mätressen angemietet hatten. Ihm fiel Holman Hunts Gemälde Das
erwachende Gewissen ein: ein vollgestelltes Wohnzimmer, eine
junge Frau mit leuchtenden Augen rutscht vom Schoß eines lässig am
Klavier sitzenden Liebhabers, dessen eine Hand auf den Tasten liegt,
während die andere nach ihr greift. In den letzten Jahren hatte Benton
bei sich eine unvermutete Vorliebe für viktorianische
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