Adam Dalgliesh 14: Ein makelloser Tod
allem. Aber jetzt bewegten sie sich wie unorganisierte
Hobbyköche in einer unvertrauten und einschüchternden Umgebung zwischen
Tisch und Herd hin und her. Wie Roboter hatten sie sich die Träger
ihrer Kochschürzen über den Kopf gezogen, die weißen Kochmützen
aufgesetzt, ohne dass es viel zu tun gegeben hätte. Um halb zehn hatte
Dean auf Miss Cressetts Geheiß Croissants, Marmelade und eine große
Kanne Kaffee hinauf in die Bibliothek getragen, aber als er die Teller
später abgeräumt hatte, war kaum etwas gegessen worden, nur die
Kaffeekanne war leer und der Bedarf an Nachschub wollte kein Ende
nehmen. Regelmäßig erschien Schwester Holland in der Küche, um eine
frisch gefüllte Thermoskanne hinaufzutragen. Dean kam sich langsam vor
wie ein Gefangener in seiner eigenen Küche.
Sie spürten eine unheimliche Stille, die vom Haus Besitz
ergriffen hatte. Selbst der Wind hatte sich gelegt, seine müden Böen
klangen wie verzweifelte Seufzer. Kim schämte sich ihrer Ohnmacht. Mr.
Chandler-Powell war sehr nett gewesen und hatte gesagt, sie müsse erst
wieder arbeiten, wenn sie sich kräftig genug fühlte, aber sie war froh,
wieder bei Dean in der Küche sein zu dürfen, wo sie hingehörte. Mr.
Chandler-Powell war ganz grau im Gesicht gewesen, hatte älter
ausgesehen und irgendwie verändert. Wie ihr Dad damals nach der
Operation, als wäre alle Kraft aus ihm gewichen, und noch etwas
Lebenswichtigeres als Kraft, etwas, das ihn zu ihrem einzigartigen Dad
gemacht hatte. So nett sie alle hier zu ihr gewesen waren, sie hatte
den Vorbehalt gespürt, unter dem das Mitgefühl ihr zuteil geworden war,
als könnte jedes Wort gefährlich werden. Wenn in ihrem Heimatdorf ein
Mord geschehen würde, wäre das alles ganz anders. Schreie des
Schreckens und der Empörung, tröstende Arme überall, die ganze Straße
wäre zu dem Haus gelaufen, um zu sehen, zu klagen, ein Gewirr von
Stimmen, Fragen, Mutmaßungen. Aber hier im Manor lebten andere
Menschen. Mr. Chandler-Powell, Mr. Westhall und seine Schwester sowie
Miss Cressett zeigten ihre Gefühle nicht, zumindest nicht öffentlich.
Auch wenn sie sicher welche hatten, wie jeder andere Mensch auch. Kim
wusste, dass sie zu schnell weinte, aber irgendwo würden die anderen
wohl auch weinen, nur dass es ihr beinahe ungebührlich vorkam, sich das
vorzustellen. Schwester Hollands Augen waren rot und verquollen
gewesen. Vielleicht hatte sie geweint. Weil sie eine Patientin verloren
hatte? Waren Krankenschwestern denn nicht daran gewöhnt? Sie hätte
gerne gewusst, was da draußen vor sich ging, außerhalb der Küche, in
der sie langsam Platzangst bekam, so geräumig sie auch war.
Dean hatte ihr von Mr. Chandler-Powells Ansprache in der
Bibliothek erzählt. Der Doktor hatte gesagt, dass der Patientenflügel
und der Fahrstuhl nicht betreten werden durften, und sie alle sollten
versuchen, ihre Arbeit so normal wie möglich zu machen. Die Polizei
würde jeden einzeln verhören wollen, aber bis dahin, darauf hatte er
besonders hingewiesen, sollten sie unter sich möglichst nicht über Miss
Gradwyns Tod sprechen. Kim wusste, dass sie über nichts anderes reden
würden, wenn nicht in der Gruppe, dann zu zweit: die Westhalls, die ins
Stone Cottage zurückgekehrt waren, Miss Cressett und Mrs. Frensham, und
ganz gewiss auch Mr. Chandler-Powell und Schwester Holland. Nur Mog
würde wohl schweigen – das konnte er, wenn es sich
lohnte –, und dass jemand mit Sharon über Miss Gradwyn redete,
vermochte sie sich beim besten Willen nicht vorzustellen. Sie und Dean
jedenfalls nicht, wenn sie in der Küche auftauchen sollte. Aber mit
Dean hatte sie darüber geredet, leise, als könnte das den Worten ihre
Brisanz nehmen. Und auch jetzt konnte Kim der Versuchung nicht
widerstehen, wieder auf das Thema zurückzukommen.
»Und wenn die Polizei mich jetzt fragen will, was genau
passiert ist, als ich Mrs. Skeffington den Tee hinaufgebracht habe,
jede Einzelheit, muss ich es ihnen erzählen?«
Dean übte sich in Geduld. Sie konnte es seiner Stimme anhören.
»Kim, wir haben das doch schon besprochen. Ja, erzähl es ihnen. Wenn
sie eine direkte Frage stellen, müssen wir darauf antworten und die
Wahrheit sagen, sonst bekommen wir Ärger. Aber es ist nicht wichtig,
was passiert ist. Du hast niemanden gesehen und mit niemandem geredet.
Mit Miss Gradwyns Tod kann es nicht das Geringste zu tun haben. Du
könntest dich um Kopf und Kragen reden, und das ohne Grund. Also bitte
kein Wort, bevor du gefragt
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