Adam Dalgliesh 14: Ein makelloser Tod
Ausdruck verliehen hatte, sagte Macklefield: »Natürlich
werde ich die Ermittlungen nach Kräften unterstützen. Sie sagen, morgen
wollen Sie zum Sanctuary Court fahren? Einen Schlüssel haben Sie?
Sicher, den hat sie natürlich bei sich gehabt. Ich habe keine privaten
Schlüssel von ihr in der Kanzlei. Ich könnte in die Stadt kommen und
mich um halb elf mit Ihnen treffen, wenn es Ihnen recht ist. Dann kann
ich vorher in der Kanzlei vorbeifahren und das Testament mitbringen,
auch wenn Sie im Haus wahrscheinlich eine Abschrift finden werden. Ich
fürchte, viel mehr kann ich nicht für Sie tun. Sie wissen
wahrscheinlich, Commander, dass die Beziehung zwischen einem Anwalt und
seinem Klienten sehr eng sein kann, besonders wenn ein Anwalt seit
vielen Jahren, vielleicht seit Generationen, für eine Familie tätig ist
und als Vertrauter und Freund betrachtet wird. In diesem Fall ist das
nicht so. Miss Gradwyns Beziehung zu mir war geprägt von gegenseitigem
Respekt und Vertrauen und, was mich betrifft, ganz gewiss von
Sympathie. Aber sie war rein beruflicher Natur. Ich habe die Klientin
gekannt, nicht die Frau. Übrigens, ich nehme an, Sie haben die nächsten
Angehörigen informiert.«
»Ja«, sagte Dalgliesh, »es gibt niemanden außer der Mutter.
Sie hat ihre Tochter als sehr verschlossenen Menschen geschildert. Ich
habe ihr gesagt, dass ich Zutritt zum Haus ihrer Tochter haben muss,
und sie hat nichts einzuwenden, auch nicht, dass ich eventuell Dinge
mitnehme, die für die Ermittlungen von Nutzen sein können.«
»Dagegen habe ich auch als Anwalt keine Einwände. Wir sehen
uns also gegen halb elf in ihrem Haus. Sondereinsatz! Danke, Commander,
dass Sie sich gemeldet haben.«
Dalgliesh unterbrach das Gespräch und dachte darüber nach,
dass ein Mord, ein einzigartiges Verbrechen, für das es keine
Wiedergutmachung gibt, seine eigenen Zwänge, aber auch Konventionen
produziert. Er bezweifelte, dass Macklefield sein Wochenende für ein
weniger spektakuläres Verbrechen unterbrochen hätte. Er war als junger
Beamter auch, gegen seinen Willen und nur vorübergehend, berührt
gewesen von der Anziehungskraft eines Mordes, so abstoßend und
widerwärtig er sein mochte. Er hatte beobachtet, wie unbeteiligte
Zuschauer – vorausgesetzt, sie waren nicht von Schmerz oder
Verdacht belastet – von einem Mordfall wie gebannt von
ungläubiger Faszination an den Ort der Tat gezogen worden waren. Noch
gaben sich Neugierige und die Medien, die sie bedienten, kein
Stelldichein vor den schmiedeeisernen Toren des Manor. Aber sie würden
kommen, und er bezweifelte, dass die Leute von Chandler-Powells
Wachdienst ihnen mehr als ein paar Unannehmlichkeiten machen konnten.
12
D ie Einzelverhöre nahmen den Rest des
Nachmittags in Anspruch. Die meisten fanden in der Bibliothek statt.
Als Letzte der Hausbewohner war Helena Cressett an der Reihe, eine
Aufgabe, die Dalgliesh Kate und Benton anvertraut hatte. Miss Cressett
war anzumerken, dass sie damit gerechnet hatte, von ihm vernommen zu
werden, aber sie sollte wissen, dass er Leiter eines Teams war und dass
seine beiden jüngeren Beamten sich auf ihr Geschäft verstanden.
Überraschend lud sie Kate und Benton in ihre privaten Räumlichkeiten im
Ostflügel ein. Der Raum, in den sie die Beamten führte, war
offensichtlich ihr Wohnzimmer, dessen Eleganz und Pracht man nur schwer
mit dem Domizil einer Hausverwalterin in Verbindung brachte. Selbst
wenn man den Raum nicht als überfrachtet bezeichnen wollte, vermittelte
er einem den Eindruck, die Einrichtungsgegenstände waren hier mehr zur
Zufriedenheit der Bewohnerin als nach ästhetischen Gesichtspunkten
zusammengestellt. Benton schien es, als hätte Helena Cressett diesen
Teil des Manor als ihre private Domäne kolonialisiert. Hier fand sich
nichts von dem finsteren Tudor-Mobiliar. Abgesehen vom Sofa, in
cremefarbenem Leinen mit roten Paspeln bezogen, das im rechten Winkel
zum Kamin aufgestellt war, handelte es sich fast ausschließlich um
Möbel aus georgianischer Zeit.
Fast alle Bilder an den getäfelten Wänden waren
Familienporträts, und Miss Cressetts Ähnlichkeit mit manchen der
Abgebildeten war unverkennbar. Keines erschien Benton besonders
meisterlich – vielleicht waren die Besseren separat verkauft
worden –, aber jedes von ihnen war von frappierender
Eigenständigkeit und mit einigem Geschick, manches mit großem Geschick
gemalt. Auf einem schaute ein viktorianischer Bischof in Batistrobe den
Maler mit einem Ausdruck
Weitere Kostenlose Bücher