Adam Dalgliesh 14: Ein makelloser Tod
persönlich nie hier gewesen. Ein paar Freunde meines
Vaters waren der Meinung, dass dieser Artikel ihn umgebracht hat, aber
diese Meinung habe ich nie geteilt, und sie war wohl auch nicht ganz
ernst gemeint. Es war eine überzogene Reaktion auf einen Kommentar, der
unfreundlich, aber im Grunde nicht verleumderisch war. Mein Vater litt
seit langem unter Herzproblemen, und ich wusste, dass sein Leben an
einem seidenen Faden hing. Vielleicht war der Verkauf des Manor der
entscheidende Schlag, doch ich glaube kaum, dass irgendwelche
schriftlichen oder mündlichen Äußerungen einer Rhoda Gradwyn ihn
sonderlich berührt hätten. Wer war die Frau schon? Eine ehrgeizige
Journalistin, die ihr Geld mit dem Unglück anderer Menschen verdiente.
Jemand muss sie so gehasst haben, dass er sie erwürgt hat, aber das war
keiner von denen, die letzte Nacht hier geschlafen haben. Und wenn Sie
mich jetzt bitte entschuldigen wollen, ich möchte gerne allein sein.
Morgen dürfen Sie wieder über meine Zeit verfügen, aber für heute
reicht mir die Aufregung.«
Sie durften sich dieser Bitte nicht verschließen. Die
Vernehmung hatte weniger als eine halbe Stunde gedauert. Als die Tür
fest hinter ihnen ins Schloss fiel, dachte Benton nicht ohne ein leises
Bedauern, dass die Vorliebe für Thomas Hardys Lyrik gegenüber seinen
Romanen wahrscheinlich das Einzige war, was sie beide gemeinsam hatten
und jemals haben würden.
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E s mochte daran liegen, dass die
Gruppenvernehmung in der Bibliothek noch so frisch und unangenehm in
Erinnerung war, jedenfalls vermieden die Verdächtigen wie in
unausgesprochener Übereinkunft jedes offene Gespräch über den Mord,
auch wenn Lettie wusste, dass unter vier Augen gesprochen
wurde – sie selbst und Helena, die Bostocks in der Küche, die
für sie immer wie eine Heimat gewesen und jetzt, so vermutete Lettie,
zu einer Art Zufluchtsort geworden war, die Westhalls im Stone Cottage.
Nur Flavia und Sharon schienen auf Distanz zu den anderen gegangen zu
sein und schwiegen, Flavia mit unbestimmten Arbeiten im OP beschäftigt,
Sharon anscheinend zu einem schmollenden, einsilbigen Teenager
regrediert. Mog bewegte sich zwischen ihnen, ließ kleine Brocken
Klatsch und Mutmaßungen wie Almosen in ausgestreckte Hände fallen. Ganz
ohne förmliche Zusammenkunft oder abgesprochene Strategie hatte sich,
so schien es Lettie, eine Theorie herausgebildet, die nur die
Skeptischeren unter ihnen nicht überzeugte, und die hielten sich zurück.
Allem Anschein nach kam der Mörder von draußen. Rhoda Gradwyn
hatte ihn selber ins Manor gelassen, Datum und Tageszeit waren offenbar
schon vor ihrer Abreise aus London vereinbart worden. Deshalb hatte sie
so eisern darauf bestanden, dass keine Besucher zu ihr gelassen wurden.
Immerhin war sie eine berüchtigte Enthüllungsjournalistin gewesen. Sie
musste Feinde gehabt haben. Das Auto, das Mog gesehen hatte, war
wahrscheinlich das Auto des Mörders gewesen, und Mrs. Skeffington hatte
ihn von ihrem Fenster aus die Taschenlampe schwenken sehen. Rätselhaft
war die Tatsache, dass die Tür am nächsten Morgen wieder verriegelt
war, aber der Mörder könnte den Riegel nach der Tat selber wieder
vorgeschoben und sich so lange im Manor versteckt gehalten haben, bis
die Tür am nächsten Morgen von Mr. Chandler-Powell wieder entriegelt
worden war. Immerhin war vor dem Eintreffen der Polizei nur eine sehr
oberflächliche Durchsuchung des Hauses vorgenommen worden. Hatte
überhaupt jemand daran gedacht, in den vier leeren Suiten im Westflügel
nachzusehen? Außerdem gab es genügend Wandschränke im Manor, die groß
genug für einen ausgewachsenen Mann waren. Jeder Eindringling von
draußen hätte unentdeckt bleiben können. Er hätte unbemerkt durch die
Westtür das Haus verlassen und über die Lindenallee auf die Felder
gelangen können, während alle Hausbewohner in der Bibliothek versammelt
waren und von Commander Dalgliesh verhört wurden. Wäre die Polizei
nicht so eifrig auf die Hausbewohner konzentriert gewesen, könnte der
Mörder längst gefasst sein.
Lettie konnte sich nicht entsinnen, wer als Erster Robin
Boyton als Hauptverdächtigen ins Spiel brachte, aber der Gedanke,
einmal in die Welt gesetzt, verbreitete sich in einer Art Osmose.
Immerhin war der Mann nach Stoke Cheverell gekommen, um Rhoda Gradwyn
zu besuchen, hatte offenbar verzweifelt verlangt, zu ihr gelassen zu
werden, und war abgewiesen worden. Wahrscheinlich war es kein
kaltblütig geplanter Mord gewesen. Miss
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