Adrenalin - Robotham, M: Adrenalin - The Suspect
sind Sie?« Er mustert mich von oben bis unten.
»Professor Joseph O’Loughlin.«
»Sagen Sie bloß! Hey, Jungs, das ist der Typ von dem Dach. Der den Jungen runtergequatscht hat«, poltert er heiser. »Ich habe noch nie einen gesehen, der so viel Schiss hatte.« Sein Lachen klingt, als hätte jemand Murmeln in ein Rohr gekippt. Dabei kommt ihm ein weiterer Gedanke. »Sie sind doch auch dieser Nuttenexperte, oder? Sie haben ein Buch geschrieben oder so was.«
»Einen Forschungsbericht.«
Er zuckt vielsagend die Achseln und macht seinen Männern ein Zeichen, worauf diese sich trennen und durch die Gänge gehen.
Er räuspert sich und wendet sich an den Raum: »Ich bin Detective Inspector Vincent Ruiz von der Metropolitan Police. Vor drei Tagen wurde in Kensal Green in West London die Leiche einer jungen Frau gefunden, die etwa zehn Tage vorher gestorben ist. Wir konnten sie bisher noch nicht identifizieren, haben jedoch Grund zu der Annahme, dass sie möglicherweise eine Prostituierte gewesen ist. Wir werden Ihnen allen eine Zeichnung der jungen Frau zeigen. Wenn eine von Ihnen sie erkennt, wäre es sehr nett, wenn Sie sich bei uns melden würden. Wir suchen einen Namen, eine Adresse, einen Partner, eine Freundin – irgendjemanden, der sie gekannt haben könnte.«
Heftig blinzelnd höre ich mich fragen: »Wo wurde sie gefunden? «
»In einem flachen Grab neben dem Grand Union Canal.«
Die Bilder sind in der Erinnerung wie Schnappschüsse. Ich
sehe das weiße Zelt und die Bogenlampen, das Absperrband und das flackernde Licht der Leuchtpistolen. Die Leiche einer Frau frisch ausgegraben, und ich war dort gewesen. Ich hatte beobachtet, wie sie freigelegt worden war.
Die Halle erscheint mir höhlenartig und voller Echos. Zeichnungen werden von Hand zu Hand gereicht, der Lärmpegel steigt. Eine schlaffe Hand hält mir ein Bild hin. Die Skizze sieht aus wie eine der Kohlezeichnungen, für die die Touristen im Convent Garden posieren. Sie ist jung mit kurzen Haaren und großen Augen, aber diese Beschreibung passt auf ein Dutzend Frauen im Saal.
Fünf Minuten später kehren die Detectives kopfschüttelnd zu Ruiz zurück. Der Detective Inspector grunzt und wischt sich mit einem Taschentuch seine missgebildete Nase ab.
»Sie wissen, dass dies eine illegale Versammlung ist«, sagt er mit einem Blick auf die Teekanne. »Es ist gegen das Gesetz, Prostituierten einen Versammlungsraum und Erfrischungen zu stellen.«
»Der Tee ist für mich«, sage ich.
Er lacht geringschätzig. »Sie müssen aber eine Menge Tee trinken. Oder Sie halten mich für einen Idioten.« Er will mich provozieren.
»Ich weiß, was Sie sind«, gebe ich ungehalten zurück.
»Und? Lassen Sie mich nicht zappeln?«
»Sie sind ein Junge vom Lande, der in der großen Stadt gelandet ist. Sie sind auf einem Bauernhof aufgewachsen, haben Kühe gemolken und Eier eingesammelt. Sie haben Rugby gespielt, bis irgendeine Verletzung Ihre Karriere beendet hat, aber Sie fragen sich bis heute, ob Sie es bis ganz nach oben hätten schaffen können. Seither fällt es Ihnen schwer, kein Gewicht anzusetzen. Sie sind geschieden oder verwitwet, weshalb Ihre Hemden eher nachlässig gebügelt sind und Ihr Anzug in die Reinigung müsste. Nach der Arbeit gönnen Sie sich gern ein Bier, anschließend dann ein Curry. Sie versuchen, mit dem Rauchen
aufzuhören, weshalb Sie ständig in Ihren Taschen nach Kaugummi kramen. Sie finden, Sportstudios sind was für Wichser, es sei denn, es gibt einen Boxring und Sandsäcke. Und als Sie das letzte Mal Urlaub gemacht haben, waren Sie in Italien, weil irgendjemand Ihnen erzählt hat, es wäre wunderbar, aber am Ende haben Sie das Essen, die Leute und den Wein gehasst.«
Ich bin selbst überrascht, wie kalt und gleichgültig ich klinge, als wäre ich von den Vorurteilen angesteckt worden, die um mich herumschwirren.
»Sehr beeindruckend. Ist das Ihr Party-Trick?«
»Nein«, murmele ich plötzlich verlegen. Ich möchte mich entschuldigen, weiß jedoch nicht, wo ich anfangen soll.
Ruiz unterbricht seine rastlose Suche in seinen Jackentaschen. »Sagen Sie mir eins, Professor. Wenn Sie all das erraten können, indem Sie mich bloß ansehen, wie viel kann Ihnen ein toter Körper verraten?«
»Was soll das heißen?«
»Mein Mordopfer. Wie viel könnten Sie mir über sie sagen, wenn ich Ihnen die Leiche zeige?«
Ich weiß nicht, ob er es ernst meint. Theoretisch wäre es möglich, aber ich beschäftige mich mit dem Bewusstsein der
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