Advocatus Diaboli
Herzensgüte. Otto Cosmas wurde allmählich blind, und die Vorstellung, nicht mehr schreiben zu können, entsetzte ihn zutiefst. Sobald Rainerio fähig war, einen Griffel zu halten, machte er ihn zu seinem Sklaven. Rainerio wollte, dass ich mich mit ihm anfreundete, aber daraus wurde nichts. Je mehr er in die Geheimnisse des Alten eindrang, umso weniger wollte er mit anderen darüber sprechen.«
Benedetto nickte verständnisvoll: Durch Otto Cosmas war die Beziehung zwischen den beiden jungen Männern abgekühlt. Und dann war es zum Zerwürfnis gekommen, als Rainerio sich weigerte, mehr über seinen neuen Lehrer zu sagen.
»Wir haben erst nach dem Tod des Böhmen wieder miteinander gesprochen«, fuhr Tomaso fort. »Ich wusste, dass der Alte krank war; ich habe versucht, noch mal mit Rainerio Kontakt aufzunehmen, aber er hatte sich zu sehr verändert. Auf eigenartige Weise war er zu Otto Cosmas’ Ebenbild geworden: Er hatte nicht nur die Abfassung seiner Schrift übernommen, sondern auch seine Schrullen. Auch er verließ kaum noch das Arbeitszimmer, das Cosmas ihm überlassen hatte, er traf sich mit niemandem mehr, verweigerte sich sozusagen der Welt. Als Mann wie als Kind war Rainerio immer ein freundlicher Junge gewesen, naiv und großherzig, aber leicht beeinflussbar. Der alte Cosmas hat ihn mit seinen Ideen und Büchern vollgestopft. Ich hatte gedacht, er wäre wenigstens glücklich im Lateran. Es erstaunte mich, ihn so bedrückt und sorgenvoll zu sehen.«
Benedetto fragte sich, ob Zapetta ihm absichtlich die Niedergeschlagenheit ihres Bruders verschwiegen hatte oder ob sie nichts davon wusste.
»Hatte er andere Freunde außer dir?«
»Nein. Die einzigen Menschen, mit denen er verkehrte, waren Böhmen und Mähren aus dem Umkreis von Cosmas.«
Der junge Mann öffnete die Tür.
»Ich muss jetzt an die Arbeit zurück.«
Benedetto Gui war noch nicht zufrieden und folgte ihm.
»War am Ableben von Otto Cosmas etwas Verdächtiges?«
»Ein Verbrechen? Nicht dass ich wüsste. Er litt seit langer Zeit an Durchfall. Er spuckte Blut. Es ist eher ein Wunder, dass er überhaupt so lange gelebt hat …«
Tomaso kehrte zu seinen Öfen zurück. Er nahm sich noch Zeit für ein paar letzte Worte über Gui.
»Als er mich bei unserem letzten Zusammentreffen verließ, sagte ich zu ihm, ich hoffte, ihn wiederzusehen. Er antwortete mir, wenn ich das nächste Mal von ihm hören würde, dann könnte ich die Hoffnung begraben, ihn lebend wiederzusehen.«
Tomaso schüttelte den Kopf.
»Vielleicht seid Ihr in gewisser Weise der Botschafter …«
VII
P ater Aba wusste, dass er acht Meilen am Tag zurücklegen konnte, je nachdem, ob die Straßen bergauf oder bergab führten. Doch die Kälte, der Schnee und seine Kopfschmerzen ließen ihn langsamer vorankommen. Er legte einen ersten Zwischenhalt in Mordac ein, dann einen weiteren in Sambuse und schlug dabei immer dort sein Quartier auf, wo die Nacht ihn gerade überraschte. Überall erregten seine schwarze Augenbinde und seine Narben Misstrauen. Der Priester, dem bis vor Kurzem noch die Menschen entgegengeeilt waren, weil sein Engelsgesicht sie anzog, wurde nun wie ein Vagabund behandelt, denn man zweifelte daran, dass seine Franziskanerkutte echt war.
Nach vier Tagen Fußmarsch erreichte er die Straßenkreuzung, von der die Schäfer Beaujeu und Jaufré nach ihrer Rückkehr nach Cantimpré berichtet hatten, die Stelle, an der sie die Spur der Männer in Schwarz verloren hatten.
Wenn er ein Römer der Antike gewesen wäre, so dachte Pater Aba jetzt, dann hätte er eine Feder in den Wind geworfen und die Richtung eingeschlagen, die das Schicksal ihm gewiesen hätte. Doch er verließ sich lieber auf seinen gesunden Menschenverstand: Unter den derzeitigen Bedingungen konnten auch die besten Pferde nicht mehr als fünfzehn Meilen in drei oder vier Stunden
zurücklegen; jede zusätzliche Meile würde sie überfordern. Er wusste, dass in Richtung Toulouse drei Meilen von hier entfernt das kleine Dorf Disard lag. Wenn die schwarz gekleideten Männer am Morgen aus Cantimpré aufgebrochen waren, dann konnten sie nicht gehofft haben, weiter als bis Disard zu kommen.
Also machte er sich auf den Weg dorthin.
Nichts prädestinierte die Pfarrgemeinde Disard für besondere Gunstbeweise der Geschichte, ausgenommen vielleicht die Tatsache, dass vor über siebzig Jahren ein Trupp Simon IV. von Montforts die gesamte Bevölkerung, die vom Ungeziefer der katharischen Häresie befallen war,
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