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Agenten - Roman

Agenten - Roman

Titel: Agenten - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: btb Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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Nerv
der Unbekümmertheit zu ziehen. Schilderungen harmloser Ereignisse erhielten in seiner Gegenwart etwas von Zeugenaussagen, bei denen jeder nicht angebrachte Schlenker gleich auf einen zweifelhaften Charakter hindeutet. Ich hätte mich einem von beiden Seiten mit Interesse geführten Gespräch nicht entzogen, aber Vater blieb meist stumm, falsch resigniert, als habe er sich auch in mir nur verrechnet. Ich war kein juristischer Fall, Justiz war eine durch und durch unglückliche Sache, und ich fühlte mich weit von einem derart unausgegorenen Unglück entfernt. So hatten wir nichts voneinander, jeder zog im Haus seine Kreise, erleichtert, wenn er dem anderen nicht begegnete.
    Mutter und Sarah dagegen hatten endgültig die Rollen getauscht, fast hätte man Sarah schon für die ältere von beiden halten können. Sie hatte jetzt etwas Ernstes, Bestimmtes, von ihren herausragenden Schulleistungen wurde in der Kreisstadt viel gesprochen. Mit der Zeit hatte sie alle Jungmädchenposen abgestreift; sie bemächtigte sich der Lernstoffe mit unermüdlicher Zähigkeit und war auf allen Gebieten gleich gut. In Biologie aber schien ihr Können bereits jede Vorstellung zu übertreffen, so daß man sich in der Direktion des Gymnasiums Gedanken über ein vorgezogenes Abitur, das ihr einen baldigen Studienbeginn ermöglicht hätte, gemacht hatte. Sarah ließ sich jedoch durch ihren Ruhm nicht irritieren; ihr Lernen war wie ein selbstverständliches Grasen und Wiederkäuen, eine unablässige Zufuhr von Rohstoffen, die sich in ihrem gescheiten Kopf zu massiven Legierungen zu verdichten schienen. Ihr Gedächtnis konnte es mit dem Bloks längst aufnehmen, und sie setzte ihrem Aufnahmewillen die Krone auf, als sie einen Sonderkurs Hebräisch belegte und nach wenigen Monaten soweit gekommen war, daß ihr
Wortschatz den ihres Lehrers, der für diese Stunden extra aus Bingen anreiste, übertraf. Auf Freunde konnte sie angeblich leicht verzichten; die zappligen, unaufmerksamen Buben waren unter ihrem Niveau, und die stillen, lernwilligen setzte sie ohne Entschuldigungen vor die Tür, wenn ihnen nichts Neues mehr einfiel. Sarah war strikt, eine in allen Belangen entschieden handelnde Person, die kein natürliches Alter mehr besaß, dafür aber jenen spröden Charme, wie man ihn von Vestalinnen der Wissenschaft erwartete, die schon früh beschließen, ein Leben lang allein zu bleiben.
    Auch im Haus hatte sie längst das Regiment übernommen; sie bestimmte, was eingekauft oder gegessen wurde, ihr Geschmack entschied bei der Anschaffung von Möbeln und Küchengeräten. Wenn sie sich zum Lernen zurückzog, hatten wir anderen respektvoll Ruhe zu bewahren, nur alle Stunde öffnete sich ihre Tür, und sie erschien in der Küche, um sich ein Glas Tee aufzugießen. Sie sprach in solchen Momenten nicht einmal mit uns, meist galten wir als lästige Störelemente, die das oberste Wesen des Seins bei der Ausstellung des lebensentscheidenden IQ rücksichtslos vernachlässigt hatte. Sarah hatte nicht vor, uns für diesen Mangel zu entschädigen; im Gegenteil, ihr eigenes Verhalten hatte ebenfalls etwas Rücksichtsloses, Barbarisches, denn die Härte, mit der sie sich selbst behandelte, sollten auch die anderen zu spüren bekommen. Insgeheim atmeten alle auf, wenn sie einmal zu einer ihrer Exkursionen das Haus verließ; für zwei, drei Stunden herrschte entspannte Ruhe, dann schellte es Sturm, und einer von uns mußte ihr behilflich sein, sie von ihren Beutesäcken mit Pflanzen und noch lebenden Tieren, denen die baldige Präparierung bevorstand, zu befreien.

     
    Mutter hatte es längst aufgegeben, in Sarahs Entwicklung einzugreifen. Dieses niemals zur Sprache kommende Versagen versuchte sie zu überspielen, indem sie sich allmählich in eine anspruchslose Adeptin merkwürdigster Lehren verwandelte, deren Zusammenhang ihr wohl selbst nie recht klar geworden war. So führte sie die entlegensten Worte im Mund und verwendete sie mit erschreckender Dreistigkeit für Sachverhalte, die erheblich schlichtere Benennungen verdient gehabt hätten. Seit die Kreisstadt verkabelt war, galt sie plötzlich als globales Dorf ; das obligatorisch gewordene Frühstück mit Knäckebrot, Früchtemüsli und Joghurt war von freiwilliger Einfachheit ; Kontakte mit anderen Menschen vermehrten das analoge Wissen , um das man sich jahrhundertelang zu wenig gekümmert hatte; Erlebnisse, die mit besonderen Anstrengungen verbunden waren und bereits dadurch unvergeßlich erschienen,

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