Agenten - Roman
schwächer. Er trug eine Hornbrille, die er abnahm, wenn er nicht ins Textbuch schaute, schon das war daneben, denn die Geste unterstrich seine Behinderung. Es ging nicht voran, die beiden beharrten auf ihren konträren Gedanken, und so rettete man sich in die Pause, die der verkrampften Affektiertheit sofort ein Ende machte.
Ich stand auf und ging durch den Mittelgang langsam nach vorn. Als Linda mich bemerkte, schaute sie auf die Uhr. »Oh, das ist spät!« rief sie, noch ganz im Stil der Aufführung, der den Ungeheuerlichkeiten des Stückes nichts entgegenzusetzen schien. »Sie sind der Redakteur? Kommen Sie nur auf die Bühne!« Ihre lauten Zurufe hatten die anderen Schauspieler aufmerken lassen, und Linda kostete es aus, der Presse Beine zu machen. Sie gab mir die Hand, in ihrer Nähe begriff ich sofort, warum kein Regisseur ihr gewachsen war. Sie spielte Regie, sie hatte mir das Zeichen für meinen Auftritt gegeben. Ungeduldig stieß sie nach.
»Ich irre mich doch nicht?!«
»Ich bin Meynard.«
»Dann sind wir verabredet. Bitte, wir gehen kurz in meine Garderobe, essen können wir in der Kantine. Da läßt sich alles leichter besprechen. Einverstanden?«
Sie ging zielstrebig voraus, wir verließen die Bühne, und sie redete voraneilend, den Kopf seitwärts zur Schulter gedreht, weiter, als dürfe sie keine Zeit verlieren.
»Das Stück ist amorph, ich liebe es sehr. Aber man muß sehr sparsam sein, Sie verstehen, man muß die Katastrophen gekonnt unterlaufen. Zum Beispiel die Rosaura, die spiele ich, die besteht aus mehreren Rollen, sie ist Mann, Tochter, Liebende, Gedemütigte, in jeder Szene eine andere Figur. Man darf diese Rollen nicht zusammenzwingen wollen, sie sind so verwirrend, eben weil sie nicht harmonieren. Das ist klar, denke ich, doch ich kann es nicht immer wieder erklären. Ich stoße auf taube Ohren, wer laufend zitiert, hat gar nichts begriffen.«
Wir begegneten auf unseren labyrinthischen Wegen immer neuen Gruppen von Menschen, es war ein ununterbrochenes,
beschwingt wirkendes Strömen, doch so, als nehme keine Gruppe von der anderen große Notiz. Gerade dadurch erhielten die Bewegungen etwas Passioniertes, Übereifriges, man hätte glauben können, alle seien auf getrennten Wegen zu einem geheimbündlerischen Treffen unterwegs. Die knappen Begrüßungen kamen mir in der Eile wie Losungsworte vor, und die laut an uns vorbeipolternden Stimmen machten die Szenerie unwirklich, fast ein wenig gespenstisch.
Wir erreichten Lindas Garderobe und betraten den kleinen Raum, den der starke Duft eines Freesienstraußes ausfüllte. Sie warf sich, noch immer nicht ganz frei von den Allüren des Spiels, auf einen Stuhl und schaute für einen langen Moment angestrengt in den Spiegel, als müßte sie sich ihres Ebenbildes vergewissern, um wieder auf die Erde zu kommen. Sie faßte sich mit beiden Händen kurz an die Schläfen und massierte an ihnen entlang; dann wandte sie sich zu mir um.
»Entschuldigen Sie, ich war etwas nervös. Jetzt bin ich ganz für Sie da. Linda Francis, sagen Sie ruhig Linda zu mir. Ich freue mich auf unser Gespräch, wir wollen das Beste draus machen. Wie lange arbeitest du schon als Journalist, Meynard?«
»Wissen Sie…«
»Ach bitte, sagen wir ›du‹ zueinander…«
»Gern, ja. Ich bin nur als Vertretung losbeordert, vom Theater versteh ich nicht viel.«
»Jeder versteht etwas davon, das ist doch das Schöne. Theater ist Offenbarung, kein Dialog ohne Gegenspieler! Gehen wir, wir haben gute zwei Stunden Zeit. Wird dir das reichen?«
»Ich denke schon.«
Sie nahm einen Mantel vom Bügel und griff nach einer kleinen
Tasche. Wieder ging sie entschlossen voraus, sie hatte, wie ich dachte, das Heft in der Hand.
Die Kantine war überfüllt, aber sie verständigte sich sofort mit einer kleinen Gruppe von Kollegen, und wir bekamen einen Tisch für uns. Es gab Fisch, eine dünne, kaum panierte Scheibe mit einem versoßten Haufen Kartoffelsalat.
»Tut mir leid, das Essen ist dégoûtant …«
»Ich hätte Sie… ich hätte dich gerne eingeladen.«
»Das holen wir nach, jetzt bin ich zu sehr in Eile. Es sind die letzten Proben, die Spannungen sind noch nicht austariert. Aber das ist unser Geheimnis, nicht wahr?«
»Ich werde die Proben nur streifen.«
»Weißt du, die Situation ist für mich schwierig. Ich habe die Übersetzung bearbeitet, der Text ist in dieser Fassung von mir, deshalb kämpfe ich um jedes Wort.«
»Du sprichst Spanisch?«
»Meine Mutter ist
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