Akte X
plötzlich vollkommen verändert. Er nickte schwach, schluckte und formte ein Ja mit den Lippen, doch er brachte keinen Ton mehr heraus. Scully trat hinter Mulder und verfolgte die Vorgänge aufmerksam.
„Gerry“, wisperte Mulder. „Wo können wir Alice Brandt finden?“
Mulder war nicht sicher, ob Schnauz weinen oder seine Handschellen aufreißen und ihn mit bloßen Händen zerfleischen würde, doch dann begann der Gefangene in einem leichten Singsang zu sprechen.
„Sie ist sicher... vor den Heulern“, intonierte Schnauz. Dann blickte er Scully in die Augen. Er wollte, daß sie ihn verstand. Daß sie sich keine Sorgen mehr machen mußte.
„Jetzt geht es ihr gut.“
Scully warf Mulder einen Seitenblick zu. Ihr gefiel nicht, was Schnauz da unterschwellig durchblicken ließ.
„Sagen Sie mir, wo sie ist“, verlangte Mulder mit etwas mehr Nachdruck.
Schnauz wandte den Blick nicht von dem Bild der schreienden Mary Lefante ab. Er hatte keine Ahnung, wie dieses Bild entstanden sein konnte.
Wie hatten sie in seinen Kopf gelangen und seine Gedanken auf Papier bannen können? Doch...
was konnte es schon schaden, ihnen zu erzählen, wo die andere Frau war, die andere Geplagte...
Schließlich war sie längst in Sicherheit.
Eine ganze Kolonne Polizeifahrzeuge hielt mit plärrenden Sirenen und quietschenden Reifen am Waldrand und wirbelte Schotter und Sand auf. Der gemietete Explorer von Scully und Mulder führte den Wagenpulk an. Innerhalb von Sekunden sprangen ein Dutzend Polizisten aus den Autos und machte sich auf den Weg in den Wald. Die meisten von ihnen ließen in der Eile sogar ihre Wagentüren offen.
Mulder rief den Cops und den Leuten von der Spurensicherung zu, daß sie ausschwärmen sollten, und schon bald drangen die lauten Rufe der suchenden Polizisten und das Gebell der deutschen Schäferhunde aus der
Hundeführerstaffel aus allen Richtungen an Scullys Ohren.
Schnauz hatte darauf bestanden, daß Alice Brandt in Sicherheit sei, doch dieser Hinweis beunruhigte Scully nur noch mehr. Sie mißtraute Schnauz' Vorstellung von Sicherheit. Er hatte ihnen einen Weg genannt, den er als ,“Rutschbahn“ bezeichnete, einen Weg, der sich von einer Fischzucht außerhalb von Traverse City bis zu einem Feld hinabschlängelte. Die Polizisten hatten sofort gewußt, wovon er sprach. Die „Rutschbahn“ war die beste Rodelstrecke im ganzen Bezirk.
Dummerweise war sie nicht nur sehr lang, sondern auch recht breit, weshalb es keine Gewähr für die Beamten gab, daß sie Alice Brandt vor Einbruch der Dunkelheit finden würden -
vorausgesetzt, daß sie tatsächlich dort war.
Scully vermutete, daß ihnen bis zur Dämmerung gerade noch drei Stunden Zeit blieben. Folglich bewegten sie sich schnell vorwärts und schoben die Blätter vor ihren Füßen mit energischen Schritten beiseite, für den Fall, daß irgend etwas unter ihnen verborgen war. Schon nach zwanzig Minuten hörten sie einen der Uniformierten rufen:
„Hierher!“
Scully und Mulder machten kehrt und rannten zu der kleinen Lichtung hinüber, auf die auch die anderen Polizisten zustrebten. Officer Corning und einige seiner Kollegen blickten regungslos auf ein Bündel zu ihren Füßen herab, als die beiden FBI-Agenten die Stelle erreicht hatten. Schweigend machten sie Mulder und Scully Platz. Als Scully nähertrat, zog sich ihr Magen schmerzhaft zusammen. Sie ging neben dem Bündel in die Knie.
Alice Brandt, gekleidet in ein langärmeliges Nachthemd, lag in fötaler Position am Boden. Spuren getrockneten Blutes verliefen von den Augenwinkeln aus über ihr Gesicht. Scully suchte nach ihrem Puls, doch sie fand keinen. Sie nahm an, daß Brandt ebenso wie Lefante noch am Leben gewesen war, als Schnauz sie freigelassen hatte,
doch auch sie hatte eine Leukotomie über sich ergehen lassen müssen. Unfähig, sich im Wald zurechtzufinden, hatte sie sich zu einem Ball zusammengerollt und war einfach gestorben.
Scully erhob sich. Sie fühlte sich elend, doch das würde sie vor all diesen männlichen Polizisten niemals zugeben. Also setzte sie eine stoische Miene auf, auch wenn ihr Mulders
Gesichtsausdruck sagte, daß sie ihn nicht täuschen konnte. Zielstrebig ging sie zu ihrem Wagen zurück - Mulder konnte ja nachkommen, wenn seine Neugier befriedigt war.
Mulder sah sich unter den Beamten um. Die Stimmung war gedrückt, und die Männer wirkten deprimiert. Als der Kriminelle ergriffen worden war, hatte der Arm des Gesetzes eine kleine Schlacht gewonnen, doch
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