Akte X
Schwindelgefühl hatte endgültig nachgelassen, und jetzt, wo es um reine Spekulationen ging, kehrte ihre Souveränität zurück. Sie musste nicht einmal den Mund aufmachen, um ihrer Skepsis Ausdruck zu verleihen - sie stand ihr deutlich ins Gesicht geschrieben.
Mulder sah sie an und hob abwehrend die Hände. „Ich behaupte ja auch gar nicht, dass es tatsächlich funktioniert“, beteuerte er. Er hielt einen Moment inne. „Aber... aber wir haben beide Paula Gray gesehen.“
„Wir haben das Geburtsdatum in ihrer Personalakte bis jetzt noch nicht überprüft“, konterte Scully.
„Dann werden wir aus den Unterlagen im Amtsgericht erfahren, wie alt sie wirklich war“, erwiderte Mulder. Dann grinste er. „Und wir werden erfahren, wer in dieser Stadt sonst noch über sein Alter lügt.“
Mulder schnappte sich seine Jacke und eilte zur Tür. Seufzend legte Scully ihr Grillhähnchen beiseite und folgte ihm.
11
Jess Harold wurde den Eindruck nicht los, dass Walt Chaco ihm gar nicht richtig zuhörte.
Sie befanden sich in dem Raum in Chacos Villa, in dem der alte Mann seine Andenken aus seiner Zeit in der Südsee aufbewahrte. Chaco bezeichnete den Raum liebevoll als sein Museum. Entsprechend sorgsam ging er mit seinen Souvenirs um. Jedes einzelne Stück hatte eine lange und ausführliche Geschichte, und Chaco hatte sich die Mühe gemacht, sie auszugsweise auf kleine Karten zu tippen, die an jedem der Ausstellungsstücke angebracht waren.
Und wenn sich Chaco inmitten seiner Andenken befand, so schien er jedesmal mehr in der Vergangenheit als im Hier und Heute zu weilen.
Auch jetzt stand er träumend vor den weit offenen Türen eines mit kunstvollen Schnitzereien verzierten Schranks und bewunderte seinen Inhalt so voller Andacht, dass Jess Harold davon überzeugt war, dass der alte Mann kein einziges seiner Worte wirklich gehört hatte.
Schließlich stieg ein tiefer Seufzer aus Chacos Brust, und er schloss die schweren Schranktüren. Als er den Riegel vorgelegt und mit einem kleinen stählernen Vorhängeschloss gesichert hatte, versuchte es Harold noch einmal.
„Sie müssen etwas unternehmen, Mr. Chaco“, sagte er drängend. „Die Leute haben Angst. Sie wissen nicht, was sie von den Vorgängen halten sollen.“
Nun endlich sah Chaco Harold an.
„Sie verlieren ihren Glauben“, klagte er mit dröhnender Stimme, wobei er wie ein enttäuschter Vater klang, der erkennen muss, dass seine Kinder missraten sind.
In vorsichtigerem Tonfall entgegnete Harold: „So, wie die Dinge liegen, ist es auch schwer, ihn nicht zu verlieren.“ Es fiel ihm nicht leicht, das auszusprechen, ganz besonders Mr. Chaco gegenüber. Er rechnete mit einer Reaktion, damit, dass der alte Mann wütend werden würde, doch Chaco schwieg. Plötzlich sah er alt und geschlagen aus. Wer weiß, dachte Harold, womöglich hat Dr. Randolph doch recht ...?
Ein Gefühl, die Ahnung einer grauenvollen Angst, stieg in Harold auf. Was wäre, wenn Chaco nach all den Jahren, in denen sie ihm geglaubt und vertraut hatten, der Krankheit machtlos gegenüberstand? Was, wenn sie alle verloren waren?
„Seit gestern haben wir drei neue Fälle!“ fuhr er mit zunehmender Erregung fort, und zum ersten Mal schwang Wut in seiner Stimme.
Nun reagierte Chaco. „Ich habe meine Enkelin an diese Krankheit verloren!“ brüllte er. „Also erzähl mir nicht, womit wir es hier zu tun haben!“
Er atmete einige Male tief durch, wandte sich brüsk ab und versuchte, die Beherrschung wiederzufinden. Unsinnige Streitereien würden sie nicht weiterbringen. Sie mussten zusammenhalten, zusammenarbeiten, wie es sich für eine Familie gehörte. Ruhiger geworden ergriff er erneut das Wort: „Ich sagte doch, ich werde mich darum kümmern, Jess.“
Doch Harold war noch nicht zufrieden. „Ich weiß, dass Sie das gesagt haben, Mr. Chaco... Aber was wollen Sie tun?“
Die Türklingel verhinderte, dass Harold erfuhr, ob Chaco eine Antwort hatte.
Die beiden Männer sahen einander an. Beide fragten sich, wer das sein konnte. Vielleicht die FBI-Agenten?
Doch als die Hausdame die Tür öffnete, stellten sie erleichtert fest, dass es nur Doris Kearns war.
Während Chaco zur Begrüßung auf sie zu ging, verzogen sich seine Lippen zu einem warmen, väterlichen Lächeln.
„Doris“, begann er freundlich. „Hast du geweint?“ fragte er dann nach einem Blick in ihre roten geschwollenen Augen.
Sie sah auf und nickte. „Ich kann das nicht mehr tun, Mr. Chaco“, sagte sie gepresst. Sie versuchte, tapfer
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