Akte X
zu sein, doch statt dessen wurde sie erneut von einem trocknen Schluchzen gebeutelt. „Ich kann nicht mehr länger lügen“, brachte sie mühevoll heraus.
Sanft legte ihr Chaco die Hände auf die Schultern und schaute sie verständnisvoll an. „Es ist schon in Ordnung, Doris, schon in Ordnung.“ Seine Stimme war voller Wärme, tief und beruhigend. Doris fühlte sich besser, kaum dass sie ihren Namen aus seinem Mund gehört hatte. „Jess hat mir erzählt, was passiert ist“, fuhr er mit einem Kopfnicken in Richtung des Betriebsleiters fort, der ebenfalls aus dem Schatten hervorgetreten war. „Du musst dir wirklich keine Sorgen machen“, schloss er mit einem Lächeln.
„Aber“, wandte Doris zaghaft ein, „sie werden doch sicher glauben, dass ich es war?“
„Nein“, entgegnete Chaco, als hätte er noch nie etwas derart Absurdes gehört. „Das werden sie bestimmt nicht denken.“
Erneut begann Doris zu schluchzen. „Aber... ich war...“ Sie unterbrach sich. „Ich habe mitgeholfen...“
„Er war kein guter Mann, Doris“, rief ihr Chaco in Erinnerung. „Er hat nicht hierher gepasst, und das weißt du.“
„Aber er war mein Mann.“
Chaco nickte, doch nun war sein Gesichtsausdruck voller Strenge. „Das war der Preis, den du zu zahlen hattest“, sagte er freundlich, aber bestimmt und mit einer unmissverständlichen Härte. „Das hast du von Anfang an gewusst.“
„Aber die FBI-Agenten...“
Unverwandt sah ihr Chaco in die Augen, und ihre Stimme versagte. Beschwörend hob er die Hände. „Diese Stadt ist nicht an einem Tag erbaut worden, Doris. Sie wird auch nicht an einem Tag zerstört werden.“ Doris nickte. Trotz ihrer Zweifel fühlte sie sich ruhiger. „Und nun bist du ein Teil von uns“, fuhr er mit seiner vollen, wohltönenden Stimme fort. „Wir werden uns gut um dich kümmern.“
Doris nickte wieder, und Chaco geleitete sie sanft zur Vordertür zurück. „Und nun möchte ich, dass du nach Hause fährst und dich ein wenig ausruhst“, ordnete er an. „Diese Sache wird bald vorüber sein, und dann wirst du nicht mehr verstehen, wozu die ganze Aufregung gut war.“
Doris glaubte ihm. Sie lächelte sogar. Natürlich hatte er recht. Schon in diesem Augenblick begann sie sich zu fragen, warum sie sich eigentlich so aufgeregt hatte.
„Es tut mir leid“, entschuldigte sie sich. Wie konnte sie nur jemals an ihm gezweifelt haben? Plötzlich fühlte sie sich schüchtern und verlegen. Würde er ihr verzeihen? Sie sah in seine Augen - ja, sie konnte erkennen, dass er ihr bereits vergeben hatte. Er lächelte sie wohlwollend an.
„Das ist schon in Ordnung“, beruhigte er sie. „Wir alle verstehen das.“ Seine Worte waren so schlicht und doch so... voller Bedeutung. Voll segensreicher Befreiung von all ihren Zweifeln und Ängsten. „Gute Nacht, Doris.“ Zum Abschied legte er ihr noch einmal kurz die Hand auf die Schulter.
Doris wandte sich zum Gehen. Sie hatte die Gunst von Chacos Güte erfahren. Als sie in die Nacht hinaustrat, waren ihre Schritte beschwingter als in all den Tagen zuvor.
In Chacos Museum sah Jess Harold die Dinge allmählich ein wenig klarer. Er kannte die Macht, die von Chacos Stimme ausging, und er wusste, wie geschickt der alte Mann sie einzusetzen verstand. Doch er fürchtete, dass diese Macht langsam verfiel - genauso wie der Mann, der sie ausübte.
Chaco gesellte sich wieder zu Harold. „Sie kommt wieder in Ordnung“, sagte er entschieden.
Mit zweifelnd gerunzelter Stirn blickte Harold zur geschlossenen Vordertür. Mehr denn je fühlte er sich frei, dem alten Mann seine Meinung zu sagen. Er war sich nicht sicher, ganz und gar nicht sicher, ob wirklich alles so gut und problemlos lief. „Sie ist zu labil“, urteilte er scharf.
Chaco sah ihm streng in die Augen, und Harold fragte sich, ob er sich seiner zunehmenden Schwäche bewusst war. „Sie ist jetzt eine von uns“, entgegnete Chaco schneidend. „Sie ist Teil unserer Familie und unserer Stadt.“
Mehrere Sekunden hielt Harold Chacos Blicken stand. Dann erwiderte er im gleichen Tonfall: „Wenn wir nichts gegen sie unternehmen, dann werden wir bald keine Stadt mehr haben, um die wir uns sorgen müssten.“
Er setzte sich in Richtung Tür in Bewegung, doch Chaco blaffte nur: „Nein!“
Da war es wieder. Harold fühlte sich gezwungen stehenzubleiben, fast als hätte ihn Chaco mit Händen festgehalten. Mit einer Mischung aus Erleichterung und Angst stellte Harold fest, dass der alte Mann noch immer Macht
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