Akte X
Fassung. Als sie schließlich antwortete, klang ihre Stimme vorsichtig, als wäre ihr jetzt erst bewusst geworden, dass sie mit zwei FBI-Agenten sprach. »Meines Wissens nicht.«
Scully dachte nach; so sehr sich die junge Frau auch bemühte, sie zu unterstützen, würde Emily Kysdale ihnen doch nicht helfen können, die Ursachen für die Gewalttätigkeit ihres Vaters zu begreifen. Außerdem zeigte sich in der Veränderung ihres Tonfalls deutlich, dass Perry Stanton für sie ein Opfer war, kein Mörder. An der Art, wie Mulder sie ansah, erkannte Scully, dass ihr Partner ganz ihrer Meinung war.
Was auch der Grund für seinen Ausbruch gewesen sein mochte, Perry Stanton war ein Verbrecher. Die Ursache war lediglich für die Frage seiner Schuldfähigkeit von Interesse. Selbst wenn der Auslöser für diese Tat im dunkeln bleiben würde, würde das nichts an den Fakten oder der Aufgabe ändern, die Mulder und Scully zu bewältigen hatten. Es war ihr Job, den Verbrecher zu fassen, der Teri Nestor umgebracht hatte, und im Augenblick kam für diese Tat nur Perry Stanton in Frage.
»Mrs. Kysdale, haben Sie irgendeine Idee, wo sich Ihr Vater versteckt halten könnte. Gibt es einen Ort, an dem die Polizei ihn vielleicht nicht suchen würde?«
Nun zitterte Emily am ganzen Leib, und sie hielt den Kunststoffbecher mit Kaffee in ihren Händen fest umklammert. Schließlich senkte sie den Kopf und atmete tief durch, bis sie sich wieder einigermaßen unter Kontrolle zu haben schien. »Sie waren in seinem Appartement, in seinem Büro, bei all seinen Freunden. Sie haben die Universität durchsucht. Sie haben überall nachgesehen, wo er hingehen könnte, sogar auf dem Friedhof, auf dem meine Mutter beerdigt ist. Aber ich konnte ihnen nicht helfen, denn der Mann, der diese Schwester umgebracht hat, ist nicht der Mann, den ich kenne. Mein Vater ist nicht der Mann, den sie suchen.«
Scully fühlte eine Last auf ihrem Herzen, als Emilys Kummer endlich durch ihre reservierte Fassade brach. Mulder hatte seine Gründe, mit der bekümmerten Frau zu fühlen - und Scully hatte die ihren. Der Mord an ihrer Schwester, der Tod ihres Vaters, sie wusste, was es bedeutete, ein Familienmitglied zu verlieren, und genau das war Emily Kysdale gerade passiert. Der Perry Stanton, den sie gekannt hatte, existierte nicht mehr.
Scully beugte sich über den Tisch und berührte die Hand der jungen Frau. Dann erhob sie sich und dankte ihr für ihre Hilfe. Mulder wartete noch einen Augenblick, während die Frau in ihren Kaffee weinte, ehe er Scully zum Fahrstuhl auf der Rückseite der Cafeteria folgte, der sie wieder hinauf in die Abteilung für plastische Chirurgie und zu Dr. Alec Bernstein bringen sollte. Kaum hatte sich die Fahrstuhltür geschlossen, sagte Mulder leise: »Ich glaube ihr, Scully. Ihr Vater ist nicht der Mann, den wir suchen.« »Was wollen Sie damit sagen?«
»Sie haben doch gehört, was sie gesagt hat - er war ganz normal, als er in die Notaufnahme eingeliefert worden ist. Er war auch noch normal, nachdem ihm das Solumedol verabreicht wurde. Aber er war nicht mehr normal, als er nach der Operation wieder zu Bewusstsein kam. Er hätte anfällig sein sollen, benommen, hätte Schmerzen erleiden müssen; statt dessen war er zu einer ganz unglaublichen Gewalttat imstande, zu einem Kraftakt, den wir kaum umschreiben, geschweige denn verstehen können.«
Scully versuchte, in seinem Gesicht zu lesen, doch sie konnte nur sein Profil erkennen. Als der Fahrstuhl im vierten Stock in der Abteilung für plastische Chirurgie anhielt, führte er seinen Gedanken zu Ende. »Scully, während dieser Transplantation muss irgend etwas geschehen sein, was diese Veränderung in Perry Stanton bewirkt hat.«
Scully wusste nicht recht, was er meinte. »Mulder, das Einsetzen eines temporären Transplantats ist beinahe so verbreitet - und ganz bestimmt ebenso sicher - wie eine Appendektomie! Und sie beschränkt sich auf den verletzten Hautbereich - bei Stanton war das die rechte Hüfte.« Doch noch während sie sprach, kam ihr ein Gedanke. Die Operation betraf vorrangig Stantons Hüfte, trotzdem gab es eine Interaktion mit seinem Blutkreislauf und dem Immunsystem. Vielleicht hatte Mulder recht: es war keineswegs unmöglich, dass das Transplantat selbst in irgendeiner Form auf Stanton einwirkte. Sie würde sich mit der einschlägigen Literatur befassen müssen, aber sie war überzeugt, schon einmal davon gehört zu haben, dass bestimmte Virusinfektionen auf eben diese
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