Akte X
lang zögerte Scully. »Ich bin mir nicht sicher. Aber ich glaube, dass der Mörder ein Dermatom benutzt hat, um die Leichen zu häuten.«
»Ein Dermatom?« wiederholte Mulder. Er war vor dem buddhistischen Schrein in der gegenüberliegenden Ecke stehen geblieben - der Altar schien als einziger Einrichtungsgegenstand im Raum von der Verwüstung verschont geblieben zu sein. Verschwommen spiegelte sich Mulders bleiches Gesicht in der gewölbten Oberfläche des goldenen Buddhas. »Ist das nicht ein chirurgisches Instrument zur Ablösung von Hautlappen zu Transplantationszwecken?«
Scully nickte. Das Dermatom war mit unglaublicher Brutalität benutzt worden und hatte sich stellenweise durch das Fettgewebe der Unterhaut bis auf die Knochen gegraben. »Jedenfalls war hier ein Fachmann am Werk. Er muss eine medizinische Ausbildung genossen haben . . . Und er hat es schon häufiger gemacht.«
»Er?« echote Mulder.
»Es könnte auch eine Sie gewesen sein. Aber es war ganz bestimmt kein Es, trotz allem, was die Leute draußen glauben. Diese Schnitte sind fachmännisch ausgeführt worden. Verstehen Sie? Es ist nicht einfach, eine Leiche zu häuten: Man braucht Übung und einige Kraft dafür, außerdem sind gewisse Vorbereitungen erforderlich. Die Haut muss weggeschafft und irgendwo deponiert werden.«
»Aber warum?« fragte Fielding mit bebender Stimme. »Warum die Trowbridges - und warum auf diese Weise?«
Scully überging den ersten Teil der Frage. Sie hatte das dumpfe Gefühl, dass die Trowbridges ermordet worden waren, weil sie ihr und Mulder bei ihren Nachforschungen geholfen hatten. Der zweite Teil von Fieldings Frage war noch einfacher zu beantworten, und Mulder kam seiner Partnerin zuvor.
»Wegen der Legende.« Vorsichtig beugte er sich über den buddhistischen Schrein und legte beide Hände leicht auf den Bauch der goldenen Statue. Irgend etwas an dem Standbild schien ihn zu irritieren. »Sie bietet sich geradezu an, um einen Doppelmord zu kaschieren - und es bringt ganz Alkut gegen unsere Untersuchung auf. Zwei Fremde, die Ärger machen und das Ungeheuer wecken, das seine mörderischen Beutezüge wieder aufnimmt . . . Von jetzt an sind wir auf uns allein gestellt.«
Kopfschüttelnd richtete sich Fielding auf. »Ich werde mit den Nachbarn sprechen. Vielleicht hat ja irgend jemand was gesehen . . . Aber ich fürchte, mehr kann ich nicht für Sie tun. Es ist. . .«, sie schluckte schwer ,«es ist eine schreckliche Tragödie. Ich muss dauernd an ihre Hochzeit denken und wie die beiden sich in die Augen gesehen haben. Wissen Sie, beide waren fremd hier - sie kam aus dem Norden, er aus Amerika -, aber sie hatten einander gefunden. Und das allein zählte.«
Fielding seufzte und rieb sich mit den Handrücken über die geröteten Augen. Dann ging sie leise und mit hängenden Schultern hinaus und ließ die FBI-Agenten am Tatort allein.
Scully zwang sich, Fieldings sentimentale Worte aus ihren Gedanken zu verdrängen. Es brachte sie nicht weiter, in diesen Leichen Menschen zu sehen. Mit professioneller Nüchternheit fuhr sie mit den Fingern durch die Blutpfütze, die den Großteil des Bodens bedeckte, und versuchte anhand der Konsistenz der Flüssigkeit den genauen Todeszeitpunkt zu bestimmen. Ohne Haut oder forensische Instrumente war dies ihr einziger Anhaltspunkt.
»Wir haben vor rund drei Stunden das Haus verlassen«, überlegte sie laut. »Der Täter muss draußen gewartet haben. Wahrscheinlich hat er uns gesehen, als wir fortgingen.«
»Und vielleicht ist er noch immer dort draußen«, fügte Mulder hinzu. »Er beobachtet uns, um herauszufinden, was wir als nächstes tun werden. Oder er glaubt, dass seine Arbeit getan ist - dass er uns von unserer Informationsquelle abgeschnitten hat.«
Scully erhob sich mit steif gewordenen Knien. Sie trat zu Mulder und verfolgte neugierig, wie er den goldenen Buddha rieb. Die Statue war einen knappen Meter hoch und schien um die fünfzig Pfund zu wiegen. Das Gold war sorgfältig poliert, obwohl es an einigen Stellen, wo der Weihrauch das weiche Metall im Lauf der Jahre befleckt hatte, dunkle Schlieren aufwies. Das breite Gesicht des Buddhas war heiter und mutete seltsam zufrieden an - trotz der frischen Blutspritzer auf seinen rundlichen Wangen. »Mulder, ich bin ein wenig irritiert. Ich hatte erwartet, dass Sie meine Schlußfolgerungen anzweifeln würden.«
»Ungeheuer durchsuchen die Häuser ihrer Opfer nicht«, erklärte Mulder und drückte plötzlich gegen die Statue.
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