Alanna - Das Lied der Loewin
verbrachte sie etwas Zeit mit dem jungen Mann, den Coram als seinen Ersatzmann einlernte; es war ein netter Kerl, der eine kleine Familie und etwas Bildung hatte. Alanna wusste nach diesem Gespräch, dass er ihr ebenso treu dienen würde, wie Coram es tat. Mit Coram vereinbarte sie, dass er im November zum Palast kommen würde, um mit dabei zu sein, wenn sie ihre Ritterprüfung ablegte.
Nun ritten Alanna und Georg weiter zur Stadt der Götter. Alanna seufzte müde, als sie endlich vor den mächtigen Stadtmauern ankamen. Rundum erstreckten sich meilenweit graue Berge, auf denen kaum etwas wuchs.
»Wie hält es Thom nur aus in so einer abscheulichen Gegend?« , fragte sie Georg. »Ich würde verrückt werden, wenn ich mir das unentwegt anschauen müsste.«
»Wie die meisten Gelehrten hat er vermutlich keinen Blick dafür«, entgegnete Alanna.
Die Kriegerpriester, die an den Toren Wache hielten, führten sie zum Mithran-Kloster. Als sie an der Klosterschule der Mutter der Berge vorüberkamen, schauderte Alanna. Hinter diesen Mauern hatte sie fast sechs Jahre ihres Lebens verbracht. Jetzt war sie glücklicher als jemals zuvor, dass sie dem entronnen war. Ein orangefarben gekleideter Geweihter ließ sie ins Kloster ein; Novizen nahmen ihnen die Pferde ab. Ein uralter, gelbhäutiger Mann in den schwarz-goldenen Gewändern der Meister kam ihnen mit wackligen Schritten entgegen, um sie zu begrüßen.
»Euer Besuch ehrt uns, Knappe Alan und Bürger Cooper«, sagte er. »Ich bin Si-cham, der Vorsteher der Meister hier.«
Alanna verbeugte sich tief. Als Zauberer war Si-cham fast so mächtig wie Herzog Roger. Als Priester stand er allen Mithros-Priestern der Ostländer vor. »Es wäre uns eine Ehre, wenn ihr uns bei unserem Abendessen Gesellschaft leisten wolltet«, fuhr der freundliche alte Mann fort. »Wir hören so wenig Neuigkeiten von draußen.«
»Es wird uns eine Ehre sein«, erwiderte Georg.
»Ausgezeichnet, ausgezeichnet. Folgt mir bitte. Ich denke nicht, dass euch Meisterschüler Thom erwartet. Oder doch?«
Alanna verneinte. »Ich wollte ihn überraschen.«
Si-cham warf ihr einen durchdringenden Blick zu, bevor er an eine der vielen Türen klopfte, die den langen Flur säumten. »Glaubst du, dass unseren Meisterschüler Thom noch vieles überraschen kann?«
Bevor Alanna diese komische Frage beantworten konnte, öffnete Thom die Tür. Er hatte einen Bart, war größer geworden – und älter. Voller Freude umarmte er Alanna und
rief: »Bruderherz!« Als er ihren Begleiter sah, wurden seine violetten Augen ganz groß. »Das ist doch nicht etwa Georg Cooper?«, fragte er und strahlte.
»Derselbe«, entgegnete Georg und reichte ihm die Hand. »Ich habe auch schon das eine oder andere von dir gehört.«
»Sicher auch Gutes. Zumindest manchmal«, spaßte Thom und schüttelte Georgs Hand. Er warf Meister Si-cham einen Blick zu, während sich Alanna verwirrt sagte: Er wusste, dass wir kommen. Er war überhaupt nicht überrascht.
»Ihre Sachen wurden zum Gästeflügel gebracht.« Die Stimme des Meisters, die noch vor einem Augenblick warm und freundlich gewesen war, wurde plötzlich frostig. »Sie haben auch meine Einladung angenommen, mit uns zu Abend zu essen.« Thom zog eine seiner kupferfarbenen Augenbrauen hoch. »Oh?«, fragte er übertrieben freundlich. »Dann werde ich mich wohl ebenfalls dazugesellen müssen, wie?«
»Zur Abwechslung einmal.« Die Stimme des alten Meisters war so trocken wie Herbstlaub. »Ich werde euch nun allein lassen, damit ihr euch unterhalten könnt.« Er eilte den langen Flur hinunter.
Alanna war verwirrt. »Ich begreife das nicht. Vor einem Augenblick war er noch so freundlich.«
»Sie sind wütend auf mich, seit ich aufhörte, den Idioten zu spielen und die schriftliche Meisterprüfung bestand. Kommt rein, setzt euch. Wein?« Thom läutete die Glocke und ein Diener, der das weiße Gewand der Novizen trug, kam herein. Thom gab dem Jungen Anweisungen und tat so, als merke er nicht, das ihn Alanna und Georg anstarrten. Als der Novize verschwunden war, ließ sich Alanna auf einen Stuhl plumpsen. Die meisten, die den Meistertitel anstrebten,
machten nicht einmal den Versuch, die Prüfung abzulegen, bevor sie mindestens dreißig waren.
»Du hast die schriftliche Meisterprüfung bestanden?« Alanna hatte Mühe die Worte herauszukriegen.
»Vor zwei Wochen. Sie war leichter, als du denkst.« Thom zuckte die Achseln, bedeutete Georg, er solle sich neben Alanna setzen, und nahm sich
Weitere Kostenlose Bücher