Alanna - Das Lied der Loewin
den jüngeren Naxen außerhalb des Palasts bisher nur wenige kannten. Viele der älteren Edlen, auf deren Unterstützung sich ein König normalerweise verlassen konnte, verweigerten sie Jonathan ohne Angabe von Gründen. Sie entschuldigten sich damit, sie wollten die Krönung abwarten, dies sei der rechte Zeitpunkt und Ort dafür. Aber von Myles und Herzog Gareth wusste Jonathan, dass dieselben Edlen seinem Vater schon vor der Krönung Unterstützung zugesichert hatten. Kralle schien verschwunden zu sein, aber Alanna hatte von Stefan gehört, dass Kralles Anhänger Georg immer noch das Leben schwer machten. Ein nasser Frühling und ein bisher feuchter Sommer versprachen eine magere Ernte – schlechte Omen für Jonathans erstes Jahr auf dem Thron.
»Jeder wartet ab, um zu sehen, wie die Sache laufen wird«, sagte Rispah, während Alanna die Anprobe über sich ergehen ließ. »Ohne jeglichen Grund. Sie hoffen auf einen anderen
Thronanwärter, aber wer sollte das sein? Herzog von Conté hat sie nicht ermutigt, das steht fest.«
»Für einige hat es schon gereicht, dass so viele Bazhir gekommen sind«, erklärte Eleni. »Viele der Leute aus dem Norden hassen sie, und jeder König, den die Wüstenmänner mögen, wird sich vor Probleme gestellt sehen.«
»Manche sagen, Herzog Roger sei älter und erfahrener als Jonathan«, fügte Rispah hinzu. »Sie sagen, was vor zwei Mittwintern passiert sei« – sie nickte zu Alanna hinüber –, »sei ein Komplott Jonathans gewesen, um Roger aus dem Weg zu schaffen.«
»Immer mit der Ruhe, Kind«, warnte Eleni und legte eine Hand auf Alannas Arm. »Das ist lediglich Geschwätz. Keiner unternimmt etwas – sie reden nicht mal in der Öffentlichkeit darüber. Aber Jonathan könnte ein Wunder brauchen.«
Zu ihrer eigenen Überraschung musste Alanna lächeln. »Dann werden wir ihm eines liefern.«
Am späten Nachmittag fand Alanna Myles in seinem Arbeitszimmer, wo er ein Nickerchen machte. Als er wach war, setzte sich Alanna zu ihm, um die Begebenheiten des letzten Jahres mit ihm zu besprechen. Er füllte die Lücken aus: Er wusste besser als jeder andere, wieso sich die Edlen so aufführten, wie sie es taten, und seine Freunde unter den Händlern waren immer ehrlich zu ihm. »Sie glauben nicht, dass sich Jonathan auf dem Thron behaupten kann«, erklärte er Alanna offen. »Bis er ihnen den Nachweis liefert, dass er dazu fähig ist, halten sie sich zurück. Es sind nicht sehr viele, die erwarten, dass sich Roger um den Thron bemühen wird. Tja, von denen, die am Hof leben, erwartet es keiner. Aber Tortall ist ein großes Königreich, und selbst zu den besten
Zeiten ist es schwer, alle unter einen Hut zu kriegen. Wenn Jonathan als Regent versagt, werden als Erstes die Lehnsgüter an den Grenzen abfallen und eigene Königreiche bilden. Tusain, Galla und Scanra werden an den äußeren Rändern knabbern. Das ist es, was man fürchtet. Roald ließ die Zügel locker, und jetzt zeigen sich die Folgen einer solchen, um die zwanzig Jahre währenden liebevollen Nachlässigkeit. Beantwortet das deine Frage?« Alanna nickte. »Das Juwel wird helfen. Anschließend liegt es an Jonathan und daran, wie er euch intelligente, junge Leute einsetzt.«
Alanna lächelte. »Vergiss nicht, dass er dich auch auf seiner Seite hat.«
Myles lächelte leise in sich hinein. »Übrigens hab ich was für dich – Eleni hat mir von der schweren Prüfung erzählt, die du heute Nachmittag über dich ergehen lassen musstest. Das habe ich gekauft, damit es dir wieder besser geht.« Er wühlte in seiner Tasche und gab Alanna eine kleine Schachtel. »Mach sie nicht hier auf. Danksagungen sind mir peinlich.« Er lehnte sich in seinen Sessel zurück und legte die Füße hoch. »Jetzt würde ich gern mein Nickerchen zu Ende bringen, falls du nichts dagegen hast.«
Vor seinem Arbeitszimmer öffnete Alanna die Schachtel. Ein Paar Ohrringe mit schwarzen Perlen lag darin.
Jedes Tortaller Mädchen träumte davon, unter aller Augen die Große Treppe im Ballsaal der Königin hinunterzuschreiten; dann würde der Ritter ihrer Träume sie wählen und mitnehmen in ein Leben voller Glück. Minnesänger verdienten sich ihren Lebensunterhalt, indem sie Lieder über Mädchen von bürgerlicher Herkunft sangen, die von geheimnisvollen – reichen – Gönnern bei Hof vorgestellt wurden und
denen genau das passierte. Jetzt war Alanna an der Reihe, die Treppe hinunterzugehen. An die leichte Panik, die sie überkam, war
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