Alasea 01 - Das Buch des Feuers
zu weit weg.«
»Oder vielleicht hat sie sich geirrt«, sagte Er’ril. »Wir sollten…«
Die Tür des Bücherschranks schlug über ihnen zu; Elena zuckte erschreckt zusammen, und ihre Faust krampfte sich im Reflex zusammen, sodass sie sich den Daumen an einer scharfen Kante des Amuletts aufritzte.
Die Laterne schaukelte in Onkel Bols Hand und warf flackernde Schatten. Er und Er’ril standen einige Herzschläge lang wie versteinert da.
Plötzlich drang ein neues Licht in den Raum. Es kam von dem Spiegel vor Elena. Ihren Augen, angezogen von dem Licht, bot sich ein Anblick, auf den sie nie mehr zu hoffen gewagt hatte. Ihre Tante Fila! Die alte Frau war umwallt von Lichtwogen, und Sterne funkelten hinter ihr. Der Anblick der Sterne erinnerte Elena an etwas schon einmal Gesehenes.
Doch bevor Elena darüber nachdenken konnte, sprach Tante Fila, wobei ihr Gesicht einen Ausdruck panischer Angst zeigte. »Lauf weg!« Sie deutete mit Geisterhand zu dem einzigen dunklen Gang, der aus dem Raum hinaus und tiefer in die Ruinen hineinführte. »Flieh! Sofort! Verlass die Kate und flüchte in den Wald!«
23
Rockenheim, der die Ohren so tief wie möglich ins Kissen gedrückt hatte, wurde schließlich von Erschöpfung übermannt und fiel in einen unruhigen Schlummer. Er träumte, er stünde am Rand einer Felsenklippe über einem dunklen, tosenden Meer. Während er zusah, wie die von weißem Schaum bekrönten Wellen gegen die schwarzen Felsen unter ihm krachten, war ihm irgendwie bewusst, dass er träumte. Wolken und Regen trübten den Horizont, und der Sturm peitschte die See bis weit hinaus. Wie so oft in den Träumen war die Tageszeit unklar. Die Lichtverhältnisse deuteten darauf hin, dass eine Veränderung unmittelbar bevorstand. Aber ob das Licht in Kürze heller werden und der frühe Morgen anbrechen oder ob vollständige Dunkelheit einsetzen würde, blieb ungewiss. Als Einziges wusste er mit Sicherheit, dass er diesen Ort kannte. Er hatte schon einmal hier gestanden. Er erinnerte sich an den Salzgeruch, der ihm in die Nase stieg, und an den Wind, der ihm durchs Gesicht strich. Es war das Dev’enbeer-Riff an der Küste seiner Inselheimat!
Ein Lächeln erschien auf seinem Gesicht. Es war viele Jahre her, dass er zu dem Archipel zurückgekehrt war. Selbst diese nächtliche Fantasie war ein angenehmer Besuch. Er sog die Luft tief in die Brust ein, und wenn er blinzelte… ja, er konnte mit Mühe die Insel Maunsk in der Ferne sehen, fast verschluckt von den aufgewühlten Wolken.
Plötzlich, während er noch in die Betrachtung der Nachbarinsel versunken war, umklammerte ein Gefühl von Angst sein Herz. Er blickte sich rasch um und erwartete, dass irgendein albtraumhaftes Geschöpf sich auf ihn stürzen würde, aber die sanften grünen Hänge lagen still und leer da.
Was verursachte dieses Herzflattern? Dies war seine Heimat. Wovor sollte er sich fürchten? Er vertiefte sich in den Anblick der Klippen. Das Rauschen des Ozeans, des Windes und des Regens kam ihm seltsam vertraut vor, es war mehr als nur eine Erinnerung an zu Hause. Genau dieses Bild - die ferne Insel, von Wolken eingehüllt, das Tosen des wütenden Wassers unter ihm, das Prickeln der Gischt auf seinen Wangen - machte ihm klar, dass er nicht nur früher schon einmal hier gestanden hatte, sondern dass er genau in diesem Augenblick schon einmal hier gestanden hatte. Aber wann?
Er versuchte, seine Gedanken zu ordnen, doch eine aufsteigende Panik schüttelte ihn. Er verspürte das dringende Bedürfnis wegzulaufen. Aber bevor er diesen Gedanken in die Tat umsetzen konnte, bewegten sich seine Füße ganz von selbst; sie trugen ihn jedoch nicht auf sichereren Boden, sondern weiter an den Rand der Klippe! Wie in so vielen Träumen konnte er nicht anhalten. Es war, als sei sein Körper eine Marionette, durch deren Augen er spähte. Er konnte seinen Füßen keinen Einhalt gebieten, sie marschierten immer weiter. Während er dagegen ankämpfte, sah er, wie sein rechter Fuß ins Leere trat.
Jetzt fiel es ihm ein! Er war nicht nur schon einmal hier gewesen, er hatte genau das Gleiche schon einmal getan. Ein übermächtiger Schmerz quoll als schriller Schrei aus seiner Brust, während sein Körper von der Klippe taumelte. »Linora!«
Das aufgeschäumte Wasser schlug wütend gegen die Felsen, die sich seinem Gesicht mit rasender Schnelligkeit näherten; Worte tobten in seinem Kopf, in einer kalten, vertrauten Sprache, unterlegt mit schwarzem Humor.
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