Alasea 01 - Das Buch des Feuers
folgte ihm und fand hier die einzige Wand vor, an der kein Spiegel hing. Die Nische, erhellt von der Handlaterne, bestand nicht aus aufgeschichteten Steinen wie die Mauern, sondern war aus dem Gestein des Berges herausgehauen und enthielt ein Wasserbecken, das von einem hohen Mauerrand umgeben war. Sie sah, wie ein kleiner Wassertropfen an der feuchten Felswand herunterrann und in das Becken fiel.
»Was ist das?« fragte Er’ril hinter ihr.
»Eine Schale, die von den frisch Geweihten zu Waschungen benutzt wurde. Und auch die Hände vieler alter Magiker benutzten diese Schale, um sich vor dem Meditieren zu waschen.«
Elena drängte sich an das Becken und musste sich auf Zehenspitzen stellen, um in das Wasser zu spähen. »Was hat das mit Tante Fila zu tun?«
»Dieses Wasser, das aus Quellen tief in den Bergen sickert, ist durchtränkt von Elementarkräften.« Onkel Bol sah über ihren Kopf hinweg Er’ril an. »Ich glaube nicht, dass die Magiker der Schule, die für die Elementargeister blind sind, jemals die Kraft erkannt haben, die in diesem Wasser fließt. Vielleicht haben sie es irgendwie gespürt und deshalb intuitiv ihre Stätte der Anbetung hier errichtet.«
»Was bewirkt dieses Wasser?« fragte Er’ril.
»So wie gewöhnliches Wasser Pfade in Stein schneiden kann, kann dieses Wasser Verbindungspfade von einem Menschen zum anderen herstellen. Tante Fila und ich besaßen jeweils ein Amulett, das Tropfen von diesem Wasser enthielt und mit dessen Hilfe wir uns über weite Entfernungen hinweg unterhalten konnten.« Onkel Bol zog ein kleines Jadeamulett in der Form einer Alchimistenphiole aus seiner Westentasche. Es hing an einer grauen gedrehten Kordel. Er reichte es Elena.
Sie hob das Amulett behutsam ins Licht der Laterne. »Danke. Es ist schön!«
Onkel Bol beugte sich zu ihr und küsste sie auf die Stirn. »Es ist ein Geschenk von deiner Tante Fila. Übrigens sind in die Kordel Haare von ihr eingeflochten.« Er streckte die Hand aus und entfernte einen winzigen Jadepfropfen, der als Verschluss diente, von der Phiole. »Jetzt füll das Gefäß mit Wasser«, sagte er und deutete auf das Becken.
Elena sah ihren Onkel fragend an, dann ging sie zu dem kleinen Teich und tauchte das Amulett hinein. Die Kälte des Wassers stach ihr in die Finger. Sie hob die Phiole heraus, und Onkel Bol reichte ihr den Jadepfropfen.
»Verschließ es dicht«, sagte er.
Elena tat, wie ihr geheißen, und steckte mit angestrengt gerunzelter Stirn den Jadepfropfen vorsichtig in die Phiole. »Und jetzt?« fragte sie.
»Mittels dieses Amuletts kannst du dich mit deiner Tante Fila unterhalten. Du brauchst dazu das Amulett nur fest mit der Hand zu umschließen und es dir zu wünschen.«
Ein Schauder der Angst rann ihr über den Rücken. Sie liebte ihre Tante, aber… »Ich kann mich mit ihrem Geist unterhalten?«
»Ja. Ihr Körper mag dahingegangen sein, aber ihr Geist lebt. Ich meinerseits kann sie mit meinem Amulett nicht mehr erreichen. Die Elementarkraft allein reicht nicht aus, um die Entfernung bis ins Reich des Geistes zu überbrücken. Tante Fila indes war fest davon überzeugt, dass es dir gelingen würde.«
Elenas Augen hafteten eindringlich auf dem Amulett. »Wie?«
»Geh zu einem der Spiegel. Du brauchst eine reflektierende Fläche. Dann blick hinein, während du das Amulett fest in der Hand hältst, und sprich Filas Namen aus. Versuch es.«
Elena verzog das Gesicht und ging zu einem Spiegel in einer Nachbarnische. Sie streifte sich die Kordel über den Kopf und umfasste das Amulett mit der Hand; die scharfen Kanten stachen ihr in die Haut. Sie drückte die Faust an die Brust und blickte in den Spiegel. Grüne Wasserflecken sprenkelten ihr Spiegelbild und verliehen ihr ein krankes Aussehen.
»Denk an sie und sprich ihren Namen aus«, flüsterte Onkel Bol neben ihr. Seine Stimme klang so hoffnungsvoll und gleichzeitig so traurig, dass sie sich ihm nicht widersetzen konnte. Vor ihrem geistigen Auge stellte sie sich die strengen Züge ihrer Tante und die Art und Weise vor, wie ihr Haar immer zu einem straffen Knoten nach hinten gesteckt war. »Tante Fila?« sagte sie zu dem Spiegel. »Hörst du mich?«
Beim Aussprechen dieser Worte spürte Elena, wie sich das Amulett bewegte, etwa wie ein Küken, das sich vor dem Schlüpfen im Ei bewegt. Doch weiter geschah nichts. Sie wandte sich Onkel Bol zu. »Es ist nicht möglich.«
Seine Augen verengten sich, und seine Schultern sanken schlaff nach vorn. »Vielleicht ist sie
Weitere Kostenlose Bücher