Alasea 01 - Das Buch des Feuers
mir wollen?«
Bol fuhr sich mit den Fingern wie mit einem Kamm durch den Bart und zuckte mit den Schultern. »Die Antwort liegt da vorn.«
Elena, erleichtert, weil ihr die Last der Verantwortung für ihre missliche Lage von den Schultern genommen war, hatte den Blick nach hinten schweifen lassen. Sie entdeckte einen dunkleren Schatten in der Nähe einer Wand; der Wolf folgte ihnen immer noch. Das arme Geschöpf war wahrscheinlich ebenso verängstigt und verloren wie sie und vertraute darauf, dass sie einen Weg aus diesem Labyrinth fänden. Sie betete, dass er mit seinem Vertrauen nicht falsch lag.
»Dann lasst uns weitergehen«, sagte Er’ril. »Wenn sie nur mich wollen, dann gewähren sie euch beiden vielleicht einen ungehinderten Abzug.«
»Nein, wir gehen gemeinsam«, widersprach ihr Onkel.
»Und der Wolf kommt auch mit«, fügte Elena hinzu, doch abgesehen von einem flüchtigen Klaps auf den Kopf vonseiten ihres gedankenabwesenden Onkels antwortete ihr niemand.
Sie ging neben Onkel Bol her, während Er’ril die Laterne vorantrug, deren Flamme er allerdings gelöscht hatte, um Brennstoff zu sparen. Das silberne Licht war inzwischen hell genug, um den Weg zu beleuchten. Die einzige weitere Lichtquelle war der Mondfalke, der auf ihrer Schulter döste.
Während sie weiter durch den Tunnel schritten, ließ Elena den Wolf, der ihnen folgte, nicht aus den Augen. Das Tier wartete immer wieder, bis sie eine beträchtliche Strecke des Tunnels zurückgelegt hatten, dann schoss es vor bis zu der nächsten Stelle, wo es sich verstecken konnte, und versuchte dabei stets, sich im Schatten zu halten. Doch da das Licht um sie herum immer heller und der Schatten immer geringer wurde, konnte sich der Wolf bald nicht mehr vollkommen in der Schwärze verbergen.
Nun, da Elena mehr von ihrem scheuen Begleiter zu sehen bekam, betrachtete sie ihn eingehender und stellte überrascht fest, dass sein Fell nicht so tiefschwarz war, wie sie zunächst angenommen hatte, sondern vielmehr von braunen und goldfarbenen Strähnen durchzogen. Sein Pelz glänzte im Licht, und seine Augen waren Brocken leuchtenden Bernsteins. Außerdem fiel ihr auf, dass sein Hinken anscheinend schlimmer wurde. Sein Kopf ruckte vor Schmerz auf und ab, wenn er den verletzten Vorderlauf mit seinem Gewicht belastete. Armes Geschöpf!
Während sie ihn ansah, spürte sie den Blick der Wolfsaugen auf sich und merkte, dass auch er sie nachdenklich musterte. Es kam zu einer flüchtigen Begegnung dieser goldfarbenen Augen mit den ihren, und ihr wurde plötzlich schwindelig und wirr im Kopf. Ihre rechte Hand wurde warm und kribbelte. Plötzlich schmeckte sie das wilde Holz seiner Heimat und spürte, wie sein Herz dafür schlug, in Freiheit unter den gesprenkelten Schatten des Waldes umherzulaufen. Bei diesem Gefühl weiteten sich ihre Augen, und die Tunnelwände um sie herum verblassten. Ein Bild entstand: Ein Küken fällt aus einem Nest und stürzt zu Boden, doch kurz vor dem Aufprall breiten sich seine kleinen Flügel aus, und es fliegt. Es wächst zu einem großen Adler heran, seine Flügel verdecken die Sonne, verschlucken die Welt.
So schnell wie das Bild erschienen war, so schnell löste es sich auch wieder auf. Der Tunnel nahm wieder Form an und grenzte sie ein. Jetzt sah sie nur noch die bernsteinfarbenen Augen des Wolfs, die sie anfunkelten. Sie stolperte über einen losen Stein.
Onkel Bol fing sie auf, bevor sie stürzte. »Vorsicht, mein Schatz«, murmelte er.
Sie hörte seine Worte kaum, ihre Augen waren immer noch auf den Wolf gerichtet. Was war da soeben geschehen? Sie rieb sich die Augen. Der Wolf starrte sie mit zusammengekniffenen Augen an. Irgendwie spürte sie, dass der Wolf wusste, was ihr soeben widerfahren war - die Empfindungen, das Bild des Kükens. Elena sah, dass die Augenlider des Wolfs tiefer sanken und die sonderbaren bernsteinfarbenen Augen überschatteten.
Nein! Es war mehr als das! Der Wolf wusste nicht nur um diese Bilder, er hatte sie ihr geschickt!
Aber wie? Warum? Was hatte das alles zu bedeuten?
Sie griff nach dem Ärmel ihres Onkels und zog daran. »Der Wolf… der Wolf… er…«
»Pscht, Elena! Wir sind beinahe am Ende des Tunnels angekommen.«
Elena sah, dass Er’ril bei ihren Worten das Tier anschaute. Die Schultern des Schwertkämpfers strafften sich bedrohlich, als erwarte er einen Angriff. Als er feststellte, dass der Wolf immer noch in gehörigem Abstand vor ihnen kauerte, sah er Elena fragend an. Doch sie
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