Alasea 01 - Das Buch des Feuers
silberhaarige Mann stand da, den Blick starr auf den Vogel gerichtet, die Augen vor Entsetzen weit aufgerissen.
Plötzlich stürzte sich Kral auf den Mann und schlug ihn zur Seite. Beide prallten gegen die Felswand. Das Schwert fiel dem Fremden aus der Hand und schlug mit lautem Klappern auf dem Boden auf.
Ein ersticktes Schluchzen befreite sich endlich aus Elenas Kehle, und sie fiel neben der Waffe auf die Knie. Der Mondfalke, immer noch von der Klinge gepfählt, schlug mit einem Flügel. Sie streckte die Hand aus und hob den Kopf des Vogels. Sein schwarzes Auge blickte in sie hinein. Der Lichtschein, der in seinem Gefieder eingefangen war, erlosch schnell.
Sanft nahm sie den winzigen Körper in die gewölbten Hände und zog ihn von der Klinge. Vielleicht konnte ihre Magik ihm helfen, so wie sie Onkel Bol geholfen hatte. Während das Schwert aus der Brust des Vogels glitt, erlosch der Mondfalke und hörte auf zu atmen. Sie kam zu spät! Elena drückte den Vogel an die Brust. Ihre Tränen waren der einzige Dank, den sie ihm noch mitgeben konnte.
»Er hat sie beschützt!« fauchte der silberhaarige Mann, der sie angegriffen hatte. »Er hat sein Leben für sie geopfert.«
Kral bückte sich über den Mann am Boden, eine Hand an seinem dünnen Hals. Die andere Hand deutete zu der Stelle, wo Er’ril auf den Steinboden gesunken war. »Bol, kümmere dich um Er’ril.«
Der Onkel nickte. Auf dem Weg zu Er’ril machte er einen großen Bogen um das sich duckende Ungeheuer. Es kauerte auf den Hinterbeinen, bewegte sich jedoch nicht, als er daran vorbeiging. Es wirkte eher wie aus Stein gehauen, nicht wie ein Wesen aus Fleisch und Blut - ein Og’er, hatte der Gebirgler behauptet. Neben im humpelte der Wolf schnüffelnd umher, der, wie Elena wusste, keiner war. Er hielt sich stets in der Nähe des grobknochigen Kolosses auf. Während sie die beiden betrachtete, wandten sich deren Blicke ihr zu, und ihr Puls setzte einen Schlag lang aus, als sie bemerkte, dass beide die gleichen Augen hatten: gelbe Kugeln mit schmalen schwarzen Schlitzen.
Kral rief dem Og’er zu: »Tol’chuk, hilf mir, damit dieser Verräter Merik angemessen behandelt wird!« Dann wandte er sich an Elena: »Mädchen, bist du verletzt?«
Elena drehte sich zu ihrem Angreifer um. Silberhaarig, mit durchdringenden blauen Augen, erwiderte der Mann namens Merik ihren Blick. »Mir… mir geht es gut«, sagte sie. »Warum hat er mich angegriffen? Warum hat er meinen Vogel getötet?«
Noch bevor Kral antworten konnte, sprach Merik, und seine Stimme war so durchdringend wie seine Augen. »Deinen Vogel?«
Elena wich dem anklagenden Blick des Mannes nicht aus. Sie wiegte den toten Falken noch immer in den Händen. »Ich habe ihn in den Höhlen gefunden. Er ist auf meinem Arm gelandet.«
»Der Mondfalke war das Geschöpf dieses Mannes«, erklärte Kral. »Er behauptet…«
»Die Hexe lügt!« fuhr Merik dazwischen. »Der Vogel hätte ein Wesen von so üblem Blut gemieden.«
Elena verlagerte die Hand, um ihre Schande tiefer unter dem Falken zu verstecken. Inzwischen war der Og’er zu ihnen herübergetappt. Kral stieg von Meriks Brust und übergab den Mann der Obhut des Og’ers. Elena taumelte zurück.
»Halt ihn gut fest, Tol’chuk. Ich möchte nicht, dass er das Mädchen noch einmal angreift.«
Dann sprach der Og’er. Seine Fähigkeit zu sprechen erschütterte Elena; sie hätte hinter dieser wulstigen Stirn und den tief liegenden Augen kein Wesen vermutet, das mehr Klugheit aufwies als ein Kutschengaul. Seine Stimme klang wie knirschende Steine. »Merik wird ihr nichts zuleide tun.« Der Og’er öffnete die Klaue, mit der er die Schulter des Mannes festhielt.
Kral stürzte zwischen Elena und Merik. »Was tust du da? Hat dich einer der Kobolde auf den Kopf geschlagen?«
»Er wird ihr nichts zuleide tun. Er kann es nicht.«
Elena stellte fest, dass Merik keine bedrohliche Bewegung in ihre Richtung machte. Sein Schwert lag unverändert zu seinen Füßen; seine Schultern waren nach vorn gesackt.
Wieder sprach Tol’chuk. »Der Mondfalke ist auf ihr gelandet. Merik mag das als Lüge abtun, aber sein Herz hat gesehen, wie er niederschwebte und sein Leben für das ihre wegwarf. Die Wahrheit kann man nicht leugnen.«
Kral drehte sich zu Elena um. In seinen Augen funkelte Verstehen. »Du willst damit doch nicht etwa sagen…?«
Merik antwortete, und er brachte die Worte nur mühsam hervor: »Hier steht das Blut meines Volkes. Die Hexe ist die verlorene
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