Alasea 01 - Das Buch des Feuers
um zu ihm aufzublicken. »Entschuldigung, aber was wir hier reden, geht nur uns etwas an.«
»Ich werde das Tier jagen, das euch in Angst und Schrecken versetzt«, sagte der Hüne in einem rauen Brummton, und dabei blähte er die Nüstern. »Wenn du Ehre im Leib hast, wirst du mir sagen, was ich wissen muss.«
Er’rils Wangen röteten sich. Es hatte einst eine Zeit gegeben, da hätte niemand seine Ehre in Frage gestellt. Schamgefühl brannte in ihm, wie er es seit zahllosen Wintern nicht mehr empfunden hatte.
Ni’lahn sprach von ihrem versteckten Platz hinter Er’rils Rücken. »Vielleicht hat er Recht. Der Mann verdient es, Bescheid zu wissen.«
Er’ril ballte seine eine Hand zur Faust. »Es wäre das Beste für dich, wenn du diese Sache auf sich beruhen ließest, Mann aus den Bergen.«
Der Riese richtete sich zur vollen Größe auf. Er’ril war bis jetzt gar nicht aufgefallen, welch gebückte Haltung der Mann im Beisein der Stadtbewohner eingenommen hatte. Hinter sich hörte er, wie eine Schankmagd beim Anblick dieses hoch aufragenden Kolosses vor Angst ein Glas fallen ließ. Obwohl er sich selbst auch für groß hielt, stellte Er’ril fest, dass sich seine Augen auf Bauchhöhe des Riesen befanden. »Man nennt mich Kral a’Darvun von der Senta-Sippe«, sagte der Mann grimmig. »Das Geschöpf hat meinem Stamm Schaden zugefügt. Ich kann ohne den Kopf des Ungeheuers nicht zurückkehren.«
Er’ril wusste, mit welch felsenfester Überzeugung das Bergvolk die Ehre hochhielt. Umgeben von tückischen vereisten Pässen, war Vertrauen für diese Menschen lebenswichtig. Er’ril fuhr sich mit der Faust an die Kehle, die Geste zur Bestätigung des Ehrenworts.
Kral vollführte die gleiche Bewegung mit einem leicht überraschten Gesichtsausdruck. »Du kennst unsere Bräuche, Mann der Prärie.«
»Ich bin viel herumgekommen.«
»Dann weißt du auch, was ich will. Erzähl mir von dieser dunklen Magik.«
Er’ril schluckte, da ihm plötzlich peinlich bewusst wurde, wie wenig Wissen er diesem Mann vermitteln konnte. »Ich… ich weiß eigentlich nichts. Der Hauch der dunklen Magik kam über unser Land, als Gul’gotha an unseren Grenzen einfiel. Gelehrte meiner Zeit glaubten, seine zerstörerische Wirkung habe Chi vertrieben. Während die chirische Magik im Land zu einem vereinzelten Flüstern verebbte, wurde die dunkle Magik immer stärker. Ich habe während meiner Reisen schreckliche Dinge erblickt, die den tapfersten Mann erschüttern würden.«
Bei diesen Worten runzelte Kral die Stirn. »Du sprichst von einer Zeit, bevor mein Stamm aus dem Nördlichen Ödland hierher kam. Wie ist das möglich?«
Er’ril stutzte. Er hatte geredet, ohne nachzudenken. Kaum hatte er sich eine Nacht lang ohne Zwang mit Ni’lahn unterhalten, schon war die jahrelang eingeübte Gewohnheit, seine Zunge im Zaum zu halten, von ihm abgefallen.
Ni’lahn, die sich immer noch hinter ihm versteckte, ergriff das Wort. »Vor dir steht Er’ril von Standi, der von Geschichtenerzählern der Wandernde Ritter genannt wird.«
Krals Augen verengten sich voller Abscheu, doch in den Winkeln zeigten sich Furchen der Angst. »Du erzählst Märchen, wenn ich die Wahrheit hören will.«
»Er ist kein Mythos«, sagte sie. »Er ist die Wahrheit.«
Plötzlich zuckten Krals Hände vor und legten sich auf Er’rils Schläfen. Er’ril wusste, was das bedeutete, und wehrte sich nicht gegen den großen Mann. Ni’lahn jedoch, die nicht mit dem Brauch vertraut war, sog hörbar die Luft ein.
Der Wirt, der Glasscherben im Gastraum zusammengefegt hatte, rief ihnen zu: »Hier gibt’s keine Händel! Tragt euren Streit auf der Straße aus.«
Kral hielt die Hände ruhig.
Er’ril blieb ungerührt, als er sprach. »Ich bin derjenige, dessen Namen sie genannt hat. Ich bin Er’ril vom Clan der Standi.«
Kral schloss kurz die Augen. Dann hoben sich seine Lider weit. Er taumelte einen Schritt zurück, stieß gegen einen Tisch und warf ihn um. »Du sprichst die Wahrheit!«
Der Wirt, dessen Gesicht rot angelaufen war und dessen Kinn zitterte, hob seinen Besen. »Was habe ich gesagt? Hinaus mit euch, bevor ich die Wache rufe!«
Kral ließ sich auf ein Knie fallen. Eine Bodendiele splitterte unter seinem Gewicht. »Nein! Das kann nicht sein!« Seine Stimme dröhnte durch den Raum. Tränen rannen ihm in den Bart.
Er’ril erschrak. Er wusste, dass das Bergvolk die Fähigkeit besaß zu erkennen, ob jemand die Wahrheit sprach, und zwar aufgrund einer urtümlichen
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