Alasea 01 - Das Buch des Feuers
verfallen.
Tol’chuks Knöchel waren wund und aufgekratzt vom Kriechen, als ein grünliches Licht in dem Tunnelstück vor ihm aufleuchtete. Als er sich weiter voranschleppte, wurde das Licht größer. Er blinzelte in der Helligkeit, die ihn nach der langen Dunkelheit blendete.
Das Ende des Tunnels musste nahe sein.
Ein Stück weiter vorn wurde der Weg wieder breiter und die Quelle des Lichts sichtbar: An den Wänden des Tunnels krochen tausende von daumengroßen Glühwürmern, von denen ein blassgrüner Schimmer in der Farbe von Schraubenalgen ausging. Die Würmermasse wogte und waberte, einige waren zu Knäueln verwickelt wie Wurzeln, manche zogen auf einsamen Pfaden dahin, eine weißlich schimmernde Schleimspur hinterlassend.
Das Gewimmel der Würmer an der Wand wurde immer dichter und breitete sich immer mehr aus. Während er seinen Weg fortsetzte, wallten schließlich sogar am Boden ihre raupenartigen Körper auf. Dunkle Flecken von zermalmten Glühwürmern kennzeichneten die Fußabdrücke der alten Og’er. Tol’chuk folgte ihrer Spur und versuchte dabei, die Füße in die von ihnen hinterlassenen Abdrücke zu setzen. Die Würmer mit nackten Füßen zu zerquetschen ekelte ihn. Der Anblick der sich windenden Körper machte ihm das Atmen schwer.
Da seine Aufmerksamkeit so sehr von den Würmern in Anspruch genommen war, befand er sich bereits ein ganzes Stück weit in einer geräumigen Höhle, bevor er überhaupt merkte, dass er den Tunnel verlassen hatte. Nur der kehlige Singsang der Triade brachte ihm seine Umgebung zu Bewusstsein. Die drei Og’er standen als dichte Gruppe zusammen, die gesenkten Häupter einander zugewandt.
Sein Blick wanderte weiter, und hinter der Triade gewahrte er einen hohen massiven Bogen aus rubinrotem Herzstein. Tol’chuk fiel auf die Knie. Herzstein war ein Juwel, das der Berg den Schürfern nur selten freigab. Der letzte Herzstein, den jemand entdeckt hatte, ein silbernes Juwel, nicht größer als ein Spatzenauge, hatte bei den Og’ern so viel Unruhe hervorgerufen, dass ein Stammeskrieg um seinen Besitz ausgebrochen war. In diesem Krieg war sein Vater ums Leben gekommen.
Vor dem hohen Bogen wirkten die drei Og’er zwergenhaft. Tol’chuk gaffte fassungslos den riesigen Herzstein an, den Kopf weit in den Nacken gelegt, um den fernen Scheitel des Bogens zu erkennen.
In unzählige Facetten geschliffen, warf die Oberfläche das Glühen der Würmer in Farbtönen von so unfassbarer Vielfalt zurück, dass seine grobe Sprache ihm nicht erlaubte, sie zu beschreiben. Er stand da und badete in dem Licht.
Während der von den Glühwürmern ausgestrahlte Schimmer ihm Übelkeit bereitet hatte, rührte das reflektierte Licht etwas tief in seiner Brust an, drang sogar bis zum innersten Kern seiner Knochen vor, und zum ersten Mal in seinem Leben fühlte Tol’chuk sich vollständig und ganz. Er spürte seinen Geist in jeder Faser seines Körpers. Der Schimmer wusch ihn wie ein herabstürzender Wasserfall rein von der Schande, die er empfand. Er ertappte sich dabei, dass er den Rücken noch gerader streckte, als er es sich je zuvor erlaubt hatte. Muskeln, die seit seiner frühesten Jugend verspannt gewesen waren, lockerten sich jetzt. Er merkte, wie er beim Strecken des Rückens die Arme hob.
Er war kein Halbblut, kein gebrochener Geist. Er war ein Ganzes!
Tränen rannen ihm übers Gesicht, als er seinen vollkommenen Geist und die Schönheit spürte, die unter seiner Haut und in seinen Knochen verborgen war. Er atmete die strahlende Luft tief ein, sog den reflektierten Lichtschein in sich ein. Er wollte sich niemals von dieser Stelle wegbewegen. Hier mochte er sterben.
Soll mir die Triade doch die Kehle durchschneiden, dachte er. Soll mein Lebenssaft die Würmer um meine Füße herum wegspülen. Knochen und Muskeln waren nur ein Käfig; sein darin beherbergter Geist konnte nicht von einer Axt oder einem Dolch bezwungen werden. Er war ein Ganzes und würde es immer sein!
Er wollte nichts mehr vom Leben als diesen Augenblick, doch jemand störte ihn.
»Tol’chuk!«
Sein Name glitt nur soeben am Rande seines Bewusstseins entlang, doch wie ein Kieselstein, der in ein ruhendes Gewässer geworfen wird, beeinträchtigte das Wort sein Wohlgefühl.
Sein Name wurde wiederholt. »Tol’chuk!«
Sein Hals verdrehte sich in die Richtung, aus der die Stimme kam. Durch diese Bewegung wurde seine innere Ruhe zerstört. Er schüttelte den Kopf und suchte nach dem Verlorenen. Aber es kehrte nicht
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