Alasea 01 - Das Buch des Feuers
beachtet.
Tol’chuk wusste also um seine Abstammung. Warum aber brachte diese Erkenntnis ihn so sehr aus der Fassung?
Mogwied verwarf seine Sorgen um den Og’er. Er war erleichtert, dass die Gruppe das Og’er-Gebiet inzwischen verlassen hatte und am Nachmittag in sicherere Gefilde gelangt war. Der Gipfel des Passes über die Zahnberge lag unmittelbar vor ihnen. Jenseits des Bergkamms lagen die Gebiete des Ostens - das Land der Menschen.
Obwohl es bereits dunkel wurde und sie bald ihr Lager aufschlagen mussten, trottete Tol’chuk vor den anderen her auf die Höcker des Bergkamms zu. Ferndal folgte dem Og’er auf den Fersen wie ein gut erzogener Hund.
Mogwied sah, mit welcher Mühe sein Bruder auf einen Felsen sprang. Der geschiente Vorderlauf behinderte den Wolf, hielt ihn jedoch nicht vom Marschieren ab. Anscheinend konnte ihn nichts für längere Zeit aufhalten. Mogwied griff sich an die Seite und spürte das Eisengeflecht des Maulkorbs durch das Leder seines Rucksacks. Er hatte ihn dem toten Schnüffler abgenommen, als alle mit anderem beschäftigt gewesen waren. Vielleicht wäre der Maulkorb noch von Nutzen, falls Ferndal gebändigt werden müsste. Mogwied klopfte auf den Rucksack. Es war immer gut, vorbereitet zu sein.
Mogwied blieb bei dem Felsen stehen und blickte zu den östlichen Hängen hinüber. Die Schatten der Gipfel erstreckten sich über die Landschaft, während die Sonne dahinter unterging.
Von hier aus führten alle Wege nach unten.
Ferndal hob die Nase in den Wind, der aus dem Flachland heraufwehte. Selbst Mogwieds nicht so empfindliche Nase konnte die salzige Luft riechen, die vom fernen Meer herüberzog. Welch fremder und faszinierender Geruch, dachte Mogwied. Ganz anders als zu Hause. Aber es lag noch etwas anderes in der Luft, die feineren Aromen beinahe übertrumpfend, und dies war ein vertrauterer Geruch. »Ich rieche Rauch«, warnte Mogwied.
»Alter Rauch«, sagte Tol’chuk, und seine Stimme klang kräftiger als während der vorhergehenden Tage. »Das Feuer ist mindestens einen Tag alt.«
»Dann besteht also keine Gefahr, wenn wir unseren Weg fortsetzen?« Angst vor einem Waldbrand jagte Mogwied einen Schauer über den Rücken.
Der Og’er nickte. »Und jetzt, da wir das Og’er-Gebiet hinter uns gelassen haben, ist es vielleicht an der Zeit, dass sich unsere Wege trennen.«
Mogwied setzte an, ein paar Worte des Dankes für Tol’chuks Hilfe zu murmeln, als der Og’er plötzlich nach Luft schnappte und sich an die Brust fasste.
»Was fehlt dir?« fragte Mogwied und hielt links und rechts nach einer Gefahr Ausschau. Ferndal sprang von dem Stein und hüpfte neben Tol’chuk. Der Wolf legte besorgt eine Pfote auf das Bein des Og’ers.
Tol’chuk richtete den Rücken auf und senkte die Hand zu seinem Beutel. Zwischen seinen Habseligkeiten zog er den großen Juwel hervor, der den Og’er getötet hatte. Der Stein pulsierte rubinrot im Halbdunkel, und seine Helligkeit blendete das Auge. Dann, wie ein Kohlestück im Herd, das abkühlt, glomm das Feuer in dem Stein immer schwächer, bis das Licht ganz verschwunden war.
»Was ist das? Du hast uns bis jetzt nichts davon erzählt.« Mogwied versuchte, die Gier in seiner Stimme zu unterdrücken. Der Juwel musste einen ungeheuren Wert besitzen. Sie würden ihn vielleicht gut gebrauchen können, wenn sie im Land der Menschen um etwas feilschen müssten.
»Herzstein.« Tol’chuk steckte den Juwel wieder in seinen Beutel. »Für mein Volk ein geheiligter Stein.«
Mogwieds Augen hingen an dem Beutel. »Dieser Lichtschein, warum strahlt der Stein so? Was hat es damit auf sich?«
»Ein Zeichen. Die Geister rufen mich.«
»Wohin?«
Tol’chuk deutete auf die Osthänge der Gipfel. Ferne Rauchsäulen stiegen in das schwindende Licht hinauf. »Wenn ihr wollt, dass ich bei euch bleibe, dann reise ich mit euch in die menschlichen Gegenden. Anscheinend ist es noch nicht angesagt, dass sich unsere Wege trennen. Vor uns liegt vielleicht die Antwort, die wir alle drei suchen.«
»Oder unser Verderben«, murmelte Mogwied.
DRITTES BUCH
Wege und Weissagungen
19
Elena war wie gelähmt; ihr Blick haftete starr auf der Stelle der Straße, wo ihr Bruder gerade noch gestanden hatte. Jetzt waren nur noch geschwärzte Pflastersteine zu sehen. Die Stadt um sie herum verharrte in Lautlosigkeit, als hielte sie den Atem an. Ihre Fähigkeit, die Geschehnisse zu begreifen, war zusammen mit Joach verschwunden. Sie zuckte mit
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