Alasea 01 - Das Buch des Feuers
sich über den Höhen, die im Regen verschwammen. Eine nasse Nacht brach an.
Nein, das mit den Karotten konnte warten. Die Zeit wurde knapp.
Seine Hand fuhr immer wieder zu dem Amulett, das ihm um den Hals hing und an einem Band aus den geflochtenen Haarsträhnen seiner Schwester Fila befestigt war. Sie hätte gewiss eine viel bessere Mahlzeit zubereitet, aber so hatte es nun einmal nicht sein sollen. Das Schicksal hatte die Wahl zwischen den Zwillingen getroffen und Fila bestimmt. Sie hatte jetzt ihre eigenen Pflichten und überließ Bol die praktischeren Dinge. Wer dabei das schlechtere Los gezogen hatte, würde sich noch herausstellen. Die Wege aus diesem Raum führten in tausend verschiedene Richtungen. Wie bei einem Stein, der durch jahrhundertelangen Regen aus dem Boden gelöst wird und auf einem Pfad der Zerstörung den Hang hinunterrollt, gab es kein Zurück - für keinen von ihnen.
»Feuer wird ihr Kommen kennzeichnen«, murmelte er in den leeren Raum. »Aber was dann?«
Eine flüchtige Kälte huschte ihm über die Haut. Er trat zum Kamin und benutzte einen Messingschürhaken, um dem Feuer höhere Flammen zu entlocken. Er stellte sich vor das Feuer und ließ sich von der Hitze durchdringen. Warum froren seine alten Knochen immer so sehr? Ihm wurde kaum jemals mehr richtig warm.
Aber das war nicht der wahre Grund, warum er müßig am Feuer stand. Die letzte seiner Aufgaben harrte noch ihrer Erledigung. Er drückte sich das Amulett fester an die Brust. »Bitte, Fila, nimm mir diese Verpflichtung ab. Du warst immer die Stärkere von uns beiden.«
Keine Antwort. Das Amulett verströmte nicht einmal die vertraute Wärme. Nicht, dass er das erwartet hätte. Fila war zu weit weg, als dass er sie mit diesem einfachen Trick hätte erreichen können. Er war mit seiner Aufgabe ganz auf sich allein gestellt.
Er wärmte die Hände an den Wogen heißer Luft, die von dem Kamin ausgingen, und versuchte sie in gewisser Weise für die bevorstehende Aufgabe zu reinigen. Er betrachtete die winzigen weißen Haare auf den Fingerknöcheln. Wann waren seine Hände so alt geworden, nur noch pergamenttrockene Haut, gefurcht über knorpeligen Knochen?
Seufzend ließ er die Hände sinken und wandte sich vom Feuer ab. Wenn seine Deutung des Gelesenen richtig war, dann müsste die Gruppe bald ankommen. Bol hatte sein Haus als junger Mann genau an diesem Platz für diese Nacht gebaut, die jetzt vor ihm lag. Die Ruinen des Andachtsraums der alten Schule lagen unter den Bodendielen begraben. Hier war der Ort, von dem alles ausgehen, wo die Reise beginnen würde.
Er musste heute Nacht so stark sein wie Fila.
Bol trat zu dem Schrank, der aus undurchdringbarem Eisenholz gebaut war. Die Tür war nur mit einem einzigen Schloss versehen. Er zögerte, dann griff er sich an den Hals und streifte die geflochtene Schnur ab. Er hob sie hoch und betrachtete das Amulett. Aus grüner Jade in der Form einer kleinen Karaffe geschnitzt, enthielt es drei Tropfen geheiligten Wassers. In dem Wasser schwammen immer noch uralte Spuren elementarer Energien. Das Amulett hatte den Zwillingsgeschwistern stets erlaubt, sich über weite Entfernungen hinweg miteinander zu verständigen, und es hatte entscheidend zur Abstimmung ihrer Bemühungen und Pläne beigetragen.
Er schloss die Augen. So heilig das Amulett auch war, das da in seiner Hand lag, seine Bedeutung bestand doch vor allem darin, dass es eine Verbindung zu seiner toten Schwester herstellte. Es widerstrebte ihm, diese Erinnerung an seine Schwester loszulassen. Dennoch… Er rief sich Filas strenge graue Augen ins Gedächtnis und ahnte, wie sie auf sein Zögern reagiert hätte. »Beeil dich, Alter«, hätte sie ihn mit grimmigem Gesicht ermahnt. »Irgendwann musst du sowieso loslassen. « Sie war immer schon die Praktischere gewesen.
Ein kleines Lächeln umspielte seine Mundwinkel. Er zwirbelte das Amulett an der Schnur und stieß es schwungvoll in das Schloss des Eisenholzschrankes. Jadescherben flogen über den Boden. Ein Stück stach ihm in die Wange - wie eine Ohrfeige dafür, dass er ein so feines Kunstwerk zerstörte.
Er beachtete den Schmerz nicht. Der Schlüssel hatte seine Aufgabe erfüllt: Das Schloss des Schrankes war aufgebrochen. Er streckte die Hand zum Griff aus und öffnete die Tür, die mehr als zwei Jahrzehnte lang fest verschlossen gewesen war. Ein einziger Gegenstand lag in dem düsteren Innern: eine Schatulle aus Rosenholz mit blumengemusterten Goldbeschlägen um die Kanten.
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