Alchemie der Unsterblichkeit
und kauerte sich in einer Ecke seines Bettes zusammen. Maleficium piepste aufgeregt und kletterte auf seinen Kopf. Icherios sah seine langen Schnurrhaare vor seiner Stirn wippen. Der Schrei verstummte, um sogleich erneut einzusetzen, nur diesmal noch höher und panischer. Icherios wünschte sich, er könnte mit der Wand verschmelzen, fest presste er seinen Rücken an die Mauer. Er zog den Vorhang etwas beiseite und konnte durch das Bleiglasfenster den großen, gelben Mond über den spitzen Dächern stehen sehen. Aus den Kaminen der Häuser stiegen Rauchsäulen in den dunklen Himmel empor. Ab und an flatterte eine Fledermaus vor die Mondscheibe. Irgendwann ertrug Icherios die Dunkelheit nicht mehr und zündete am glimmenden Rest des Kaminfeuers eine Öllampe an. Auf ihrem Glas waren Markierungen angebracht, die es ermöglichten am Ölstand die vergangene Zeit abzuschätzen. Icherios wartete zehn Minuten, doch die Schreie wurden nicht leiser, sondern nahmen an Intensität weiter zu. Konnte es sein, dass er der Einzige war, der das Wehklagen hörte? Warum gingen keine Türen auf, trappelten keine Schritte, um nach dem Rechten zu sehen? Nach einem langgezogenem Schrei, der mehr an das Heulen eines Wolfes denn an eine menschliche Stimme erinnerte, trat er barfuß auf den Gang hinaus. Die Geräusche kamen von unten. Das Licht der Öllampe warf flackernde Schatten an die Wand, die in die Holzvertäfelung geifernde Fratzen zeichnete. Icherios’ Zehen gruben sich tief in den Teppich. Bei jedem Knarren der Holzbohlen zuckte der junge Gelehrte zusammen. Ein Gefühl mahnte ihn, sich nicht erwischen zu lassen. Schweiß perlte auf seiner Stirn, während er sich der Quelle der Laute näherte. Es waren eindeutig die Schreie einer Frau, dumpf, als wenn sie unter einem Stapel Decken begraben wäre. In der Eingangshalle hielt Icherios einen Moment inne. Die nächtliche Kälte drang durch die Türen und Fenster und grub sich in seine Knochen. Das Wehklagen lenkte Icherios an Arkens Amtszimmer vorbei, um die Treppe herum, vor eine Tür, die den Weg hinunter zum Keller versperrte. Zögerlich betätigte Icherios den Griff, aber sie war verschlossen. Die Schreie verstummten, als hätte die Frau die Geräusche bemerkt. Plötzlich hörte Icherios das Quietschen einer Tür im obersten Stockwerk. Schreckerfüllt blickte er sich um. An der gegenüberliegenden Seite befand sich eine weitere Tür, die zu seiner Erleichterung unverschlossen war. Er öffnete sie, wobei er sie am Knauf nach oben zog, um jedes verräterische Geräusch zu vermeiden. Dann trat er in das Zimmer und schloss sie ebenso leise hinter sich. Ein Blick verriet ihm, dass es sich um den Speisesaal der Familie handelte. Üppige, geblümte Vorhänge verzierten die Fenster. Eine Schale mit frischem Obst schmückte einen blank polierten, fast schwarzen Kirschholztisch. Eine große Kuckucksuhr tickte mit einer Ruhe, die im Kontrast zu Icherios’ innerer Aufruhr stand. Im Kamin glimmten die Reste eines Feuers. Rasch löschte Icherios seine Lampe und spähte durch das Schlüsselloch. Schritte näherten sich. Die Person war besonnener vorgegangen als Icherios und hatte daran gedacht, Schuhe anzuziehen. Icherios’ eisigkalte Zehen krümmten sich. Eine geisterhafte Gestalt tauchte vor der Kellertür auf. Das Licht der Öllampe, die sie mit sich führte, ließ das weiße Nachthemd durchsichtig erscheinen und entblößte eine schlanke, aber wohlgerundete, weibliche Figur. Lange, blonde Locken fielen lose über die Schultern, als Loretta einen schweren Schlüssel in das Schloss steckte und die Tür öffnete. Einen Moment befürchtete Icherios sie hätte ihn entdeckt, als sie über die Schulter blickte und ihre Augen auf dem Eingang zum Speisezimmer verharrten. Dann verschwand sie im Dunkeln und verschloss die Tür hinter sich. Icherios holte erleichtert Luft. Die Schreie verstummten. Fahrig entzündete er seine Lampe am Kamin und kehrte in seine Kammer zurück.
10
Familiengeheimnisse
G
Die ersten dünnen Lichtstrahlen weckten Icherios aus einem unruhigen Schlaf, in den er bei Einbruch der Dämmerung gefallen war. Fröhliches Gezwitscher ließ die Ereignisse der letzten Nacht wie einen bösen Traum erscheinen. Mit steifen Gliedern kleidete er sich an. Maleficium forderte mit allem Nachdruck, zu dem eine Ratte fähig ist, sein Frühstück. Wie jeden Morgen beobachtete der Gelehrte seinen kleinen Gefährten beim Verzehr einer Nuss. Angetrieben vom eigenen Magenknurren suchte Icherios die
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