Alejandro Canches 01 - Die siebte Geissel
gleichzeitig: »Ich würde es sehr gern sehen, aber wir müssen früh aus dem Haus ...«, sagte Janie, und Bruce sagte: »Natürlich, wie gedankenlos von mir, Sie müssen erschöpft sein .«
Dann lachten beide über die komische Situation. Bruce sah auf seine Uhr. »Es ist fast elf«, sagte er.
»Wir können bis zur nächsten Ecke gehen; da ist eine Hauptstraße, und ich kann Ihnen sicher ein Taxi rufen.«
»Ich glaube, das ist eine gute Idee«, sagte Janie. Ihre Wangen waren heiß und rot. »Ich sollte morgen wirklich ausgeschlafen sein.«
Als sie vor ihrem Hotel aus dem Taxi stieg, stand ihr der Sinn nach allem anderen als nach Schlafen. Sie eilte in den Aufzug und fuhr nach oben, wo sie rasch in ihren Jogginganzug schlüpfte. Dann fuhr sie wieder nach unten und rannte durch die Straßen, bis der Schweiß in Strömen floß und ihr Herz so schnell schlug, als würde es explodieren.
Um ein Uhr in der Nacht stellte sie sich unter die Dusche und verschwendete Wasser in amerikanischer Manier. Sie ließ das dampfende Wasser wie heiße, spitze Nadeln auf ihre verschwitzte Haut prasseln. Von ihren Dämonen befreit, zumindest vorübergehend, und von der Sünde der Faulheit geläutert, trocknete sie sich ab und schlüpfte nackt zwischen die Laken. Sie machte die Augen zu und schlief diesmal traumlos.
Für alle Fälle, dachte Janie und warf einen sauberen Slip und eine Zahnbürste in ihre Aktenmappe, ehe sie nach unten in die Halle ging, um auf Bruce zu warten. Er kam in der Morgendämmerung, wie er tags zuvor telefonisch versprochen hatte. Hoffen wir, daß die Mission Erfolg hat, dachte sie bei sich, als Bruce vom Hotel abfuhr und sich in den Londoner Verkehr einfädelte.
Sie fuhren fast den ganzen Vormittag auf großen Schnellstraßen. Sie schaute häufig auf die Karte, während Bruce fuhr, und verglich die pastellfarbe- nen, zweidimensionalen Darstellungen auf dem Papier mit der üppiggrünen Wirklichkeit der ländlichen Umgebung Londons. Meist unterhielten sie sich über die Gegend, durch die sie fuhren; sehr persönliche Dinge wurden nicht berührt, und Janie war darüber irgendwie erleichtert. Für eine ganze Weile lehnte sie sich auf ihrem Sitz zurück und schloß die Augen, glitt in einen friedlichen Zustand, soweit das bei ihren persönlichen Unsicherheiten möglich war. Bruce störte sie nicht, wenn sie sich in diesen privaten Raum zurückzog. Kurz vor Mittag verließ er die Schnellstraße und nahm eine Abzweigung, die nach Norden führte.
Janie erwachte aus ihrer Tagträumerei, als der Straßenbelag sich veränderte und ihre Fahrt langsamer wurde. Sie schaute auf die Karte und sagte: »Das kann nicht unsere Ausfahrt sein!«
»Nein«, sagte er, »Sie haben recht. Es ist meine Ausfahrt.«
»Wie bitte?« sagte sie.
»Mein Lieblingspub in ganz England befindet sich hier. Und es ist Zeit zum Mittagessen. Wir haben ungefähr noch zwei Stunden bis Leeds. Ich glaube nicht, daß mein Magen mir verzeiht, wenn ich jetzt nichts esse.«
Als sie das kleine Gebäude im Tudor-Stil betraten, sagte Janie: »Wir scheinen eine Menge Zeit mit Essen zu verbringen.«
»Aber wir essen gut, nicht?«
Sie konnte nicht widersprechen; als der Kellner ihm eine Speisekarte reichte, gab Bruce sie ihm sofort wieder zurück. »Ich weiß schon, was ich möchte«, sagte er und bestellte Yorkshire-Pudding. Janie entschied sich rasch für einen Teller Suppe und ein Brötchen. Die Speisen kamen schneller als erwartet.
Während sie Bruce beim Essen zusah, ließ Janie ihre Gedanken zwischen dem Mann, den sie vor sich sah, und dem Jungen, an den sie sich aus ferner Vergangenheit erinnerte, hin und her wandern. Der Mann widerlegte alle Gründe, die sie vielleicht gehabt hatte, den Jungen nicht zu mögen; er war eine zunehmend angenehme Überraschung. Sie fragte sich, ob sie in seiner Vorstellung auch so gut wegkam oder ob er sich überhaupt die Mühe machte, das Mädchen, das er vor zwei Jahrzehnten flüchtig gekannt hatte, mit der Frau zu vergleichen, deren tiefste Geheimnisse er hatte sehen können. Er aß rasch und mit offenkundigem Genuß und leckte sich hin und wieder die Finger ab, wenn er große Brocken von dem teigigen Pudding in die Sauce auf dem Teller stippte. Janie erinnerte sich, daß sie ihn früher einmal Gebäck in Kaffee hatte tauchen sehen, und verglich im stillen den Bruce von damals mit dem heutigen, während sie jeden Bissen ihres eigenen kargen Mahls sorgfältig kaute. Es war ein aufschlußreicher Moment, ein ruhiges
Weitere Kostenlose Bücher