Alera 01 - Geliebter Feind
fragte ich, obwohl ich die Antwort fürchtete und meine Miene wohl das gleiche Entsetzen spiegelte wie Destaris.
»Es bedeutet, dass jedes Wort, das Narian spricht, vonBedeutung ist. Es bedeutet, dass – was auch immer Narian in Hytanica im Schilde führt – er in Cokyri ein Schicksal zu erfüllen hat. Es bedeutet, dass er die Waffe ist, die Hytanica ins Verderben stürzen kann.«
Ich wankte, als hätten Londons Worte mich wie echte Schläge getroffen. Das ergab alles keinen Sinn und erlaubte doch gleichzeitig nur einen einzigen Schluss. Ich versuchte, mich zusammenzunehmen und einen klaren Gedanken zu fassen.
»Aber selbst wenn alles, was du über Narians Vergangenheit gesagt hast, stimmt, dann muss er doch immer noch die Wahl haben!«
Panisch blickte ich zwischen London und Destari hin und her und hörte gleichzeitig Narians Stimme wie ein Echo in meinem Kopf. »Du hast immer eine Wahl«, hatte er am Abend von Semaris Geburtstag gesagt.
»Er kann diesem Schicksal doch entgehen, oder etwa nicht?«, beharrte ich und fühlte mich, als müsste ich in diesem Zelt ersticken.
»Vielleicht.« London holte tief Luft, bevor er fortfuhr. »Die Cokyrier würden alles tun, um Narians Rückkehr zu bewirken. Sie sind entschlossen, ihn sich zurückzuholen, koste es, was es wolle. Zu dem Zeitpunkt, als die Hohepriesterin im Schlossgarten gefangen genommen wurde, galt Narian schon zehn Tage lang als vermisst.«
»Aber warum suchte die Hohepriesterin denn selbst nach ihm?« Ich versuchte, mich auf einen anderen Aspekt dieses unglaublichen Szenarios zu konzentrieren. Auf etwas, das gewöhnlicher, verständlicher, einfach realer war.
»Sie hat im Garten nicht nach Narian gesucht.«
London zögerte, noch mehr preiszugeben. Aber offenbar kam er zu dem Schluss, dass er es tun sollte. DieErklärung, die er uns lieferte, war jedoch ebenso verworren wie seine bisherigen Ausführungen.
»Sie kam zum Palast, um mich zu finden. Sie wollte meine Hilfe bei der Suche nach Narian. Ich verdanke ihr mein Leben, allerdings auf andere Weise, als du vermuten würdest.«
Destari räusperte sich, was seiner Stimme allerdings nichts von der hörbaren Anspannung nahm. »Sollte diese Information nicht dem Hauptmann und dem König zur Kenntnis gebracht werden?«
»Die Information stammt von mir, daher würden sie ihr nicht trauen«, erwiderte London in bitterem Ton. »Es wird die Zeit kommen, da sie sie erfahren, aber inzwischen wollen wir nur Narian wachsam im Auge behalten.«
»Und was traust du ihm alles zu?«, presste Destari hervor und schien erfüllt von bösen Vorahnungen und der Sorge, dass ich weiterhin Zeit mit Koranis’ Sohn verbringen würde.
»Das, wozu er in der Lage wäre, raubt mir momentan nicht den Schlaf. Denn egal, was die Cokyrier mit ihm vorhaben mögen, er ist erst sechzehn und weder erwachsen noch vollständig ausgebildet. Außerdem wurde er hier in Hytanica überaus freundlich behandelt, daher glaube ich nicht, dass er gegenwärtig für irgendjemand eine Bedrohung darstellt. Ich sorge mich eher darum, was aus ihm werden könnte, sollte er nach Cokyri zurückkehren. Und zwar egal, ob das freiwillig oder mit Gewalt geschähe. Kehrt er zurück, dürfte Hytanicas Schicksal besiegelt sein. Also müssen wir alles tun, was in unserer Macht steht, um zu verhindern, dass er dem Feind in die Hände fällt.« London fixierte mich. »Und du tätest gut daran, dich von ihm fernzuhalten, Alera.«
Ich nickte und mir war schwindelig. Destari schien meinen Zustand zu bemerken und fasste mich am Oberarm. Da wandte London sich erneut an ihn.
»Es ist Zeit, Alera zur königlichen Loge zurückzubringen. Bleibt sie zu lange fort, könnte das Fragen aufwerfen.«
Ich machte keinerlei Anstalten, mich von der Stelle zu rühren. Mein Verstand und mein Körper waren wie betäubt, und schließlich schob Destari mich auf die Wandteppiche zu. Als ich schon durch sie hindurchging, hielt ich noch einmal inne und wandte mich zu London um.
»Wann sehe ich dich wieder?«, fragte ich und war traurig, weil er uns nicht begleiten konnte.
»Ich weiß es nicht. Im Palast bin ich momentan nicht willkommen«, antwortete er. Aber etwas, das tief in seinen Augen verborgen lag, verriet mir, dass er ebenso fühlte wie ich.
24. DER SCHAUKAMPF
Destari und ich bahnten uns den Weg zurück zur Königsloge. Zu meiner bisherigen Gefühlsverwirrung kam nun auch wieder die Trauer über die Trennung von London hinzu. Destari führte mich mit der Hand auf meinem
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