Alera 01 - Geliebter Feind
aufgefasst. Während ich darüber nachsann, wurde mir klar, wie wenig ich es gewohnt war, derart ernst genommen zu werden. Mein Leben lang hatte ich gelernt, mich wie eine Dame zu benehmen, gefügig und gehorsam also (wobei man einige meiner Abenteuer als ganz und gar unangemessen tadelte). Dagegen hatte Narians gespannte Aufmerksamkeit, die er auf dem Balkon für meine Ansichten gezeigt hatte, mir den Eindruck vermittelt, auf eine ganz neue Art beachtenswert und wichtig zu sein.
Ich schaute mich um und entdeckte meine Schwester, die sich durch die Menschenmenge auf mich zu schob. Mit dem Kopf deutete ich auf die Tür zum Gang und ließ meine Eltern wissen, ich hätte Kopfschmerzen und würde mich in meine Gemächer zurückziehen. Miranna sollte ruhig wieder in den Ballsaal zurückkehren, nachdem wir miteinander gesprochen hätten, aber ich fühlte mich inzwischen, als müsste ich in dem Gedränge ersticken.
Ein Wachmann öffnete eine der großen Doppeltüren für mich, und ich trat hinaus. Erst da bemerkte ich, wie stickig es zwischen den vielen Gästen gewesen war. Hier draußen war es angenehm kühl und leer und vor allem still. Das Geplauder aus dem Saal nahm ich nur noch als schwaches Summen wahr.
Wenige Augenblicke später stand Miranna neben mir und die Geräuschkulisse drang noch einmal kurz und laut aus dem Saal zu mir herüber.
»Was ist passiert?«, fragte sie und das Zittern ihrer Stimme verriet ihre Neugier. Sie nahm mich bei der Hand und führte mich auf den Absatz der Prunktreppe. »Ich habe nur Steldor davonstürmen und dich an Narians Arm gesehen, aber nach den Bemerkungen der Leute, die näher dran waren, habt ihr einen ganz schönen Wirbel verursacht.«
Ich berichtete ihr die ganze Geschichte, angefangen bei meiner hastigen Flucht auf den Balkon über meine Unterhaltung mit Narian bis hin zu unserer förmlichen Verabschiedung an der Stirnseite des Ballsaales.
Miranna lachte und zupfte verspielt an ihren rotblonden Locken.
»Was ist denn daran so komisch?«, fragte ich und konnte an den Ereignissen des Abends wahrlich nichts Lustiges finden.
»Schwesterchen, wie es scheint, hat man dich erobert«, sagte sie grinsend.
»Ach, Unsinn.«
»Doch, das stimmt! Vielleicht ist Narian der Mann deiner Träume, der sich deinem Feind entgegenstellt, um deine Ehre zu verteidigen.«
»Du bist geradezu lächerlich romantisch«, sagte ich leichthin.
»Vielleicht, aber trotzdem werde ich einen Ausflugzu Semari aufs Land einfädeln. Vielleicht können wir dann ja einen Blick auf deinen Favoriten werfen.«
Ich schüttelte den Kopf und entschied, dass es besser wäre, Miranna ihren Spaß zu lassen, als zu versuchen, ihr die Sache auszureden.
»Und was ist mit deinem Verehrer?«, sagte ich, um unauffällig das Thema zu wechseln.
»Du meinst Temerson?«
Ich grinste schelmisch. »Auf der Tanzfläche wart ihr recht nett anzusehen.«
Mirannas blaue Augen strahlten. »Alera, ich habe heute Abend vielleicht ein paar Zehen eingebüßt, aber meiner Laune hat das keinen Abbruch tun können.«
»Gibt es da womöglich etwas, das du vor mir verheimlichst?«
»Nein«, sagte sie mit einem verlegenen Lächeln. »Aber er ist schrecklich rot geworden, als ich ihn auf die Wange geküsst habe.«
»Mira!«, rief ich mit gespieltem Entsetzen, während sie kicherte. »Es scheint, als würdest du dich gut amüsieren.«
»In der Tat, und das werde ich auch weiter tun, wenn ich gleich wieder in den Saal komme. Aber schon morgen früh rede ich mit Mutter, um unseren Besuch bei Semari zu arrangieren.«
Ihr Gesicht erstrahlte in Vorfreude auf den Fortgang des Balles. Sie vollführte eine graziöse Pirouette, sagte mir Gute Nacht und schlüpfte wieder in den Saal, wobei sie sich noch rasch mit den Fingerspitzen durch ihre Locken fuhr, bevor sich die Tür hinter ihr schloss.
Gleich danach schob sich Tadark nach draußen, um zu fragen, ob ich Begleitung wünsche. Sobald ich mich zurückgezogen hätte, wäre sein Dienst beendet, also entließ ich ihn sofort, damit er den Rest des Festesgenießen konnte. Allein spazierte ich durch die Flure und genoss die Ruhe, während meine Gedanken zu Narian zurückkehrten. Im Verlauf des Abends hatte ich einige neue Eindrücke über den jungen Mann gewonnen, die sich zum Teil widersprachen, aber keinerlei Licht in seine mysteriöse Vergangenheit brachten. Und auch wenn ich nicht in Mirannas romantischer Phantasiewelt lebte, so sah ich der Gelegenheit, ihn wiederzusehen, doch mit mehr Freude
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