Alex Cross 05 - Wer Hat Angst Vorm Schattenmann
Möglichkeiten, die eine Zeugin wie Lucy Shafer ihr bot, weidlich aus. Ich konnte ihr keinen Vorwurf daraus machen. Lucy Shafer war attraktiv und schien sehr nett und freundlich zu sein – und offensichtlich sehr verliebt in ihren Mann. Und sie lebte für ihre Kinder. Eine Närrin schien sie nicht zu sein. Bloß eine Frau, die genau den Mann gefunden hatte, den sie wollte, sehr schätzte und liebte: Geoffrey Shafer.
Es war ein unauslöschliches Bild, das die Geschworenen am Ende dieses Tages mitnahmen.
Und es war eine unglaubliche Lüge, erdacht von einem Meister.
I ch besprach alles mit Andrew Jones, als ich an diesem Nachmittag vom Gericht nach Hause kam. Ich hatte noch einmal versucht, Verbindung mit Oliver Highsmith aufzunehmen, hatte bis jetzt aber noch keine Antwort bekommen. Außerdem gab es nichts Neues, das Shafer mit den Jane-Namenlos-Morden in Washington in Verbindung brachte. In den letzten Monaten schien Shafer niemanden ermordet zu haben, zumindest nicht in Washington.
Nach dem Abendessen – Hühnerpastete, Salat und Rhabarberkuchen – gab Nana den Kindern frei. Sie mussten nicht wie üblich abwaschen. Sie bat mich, ihr zu helfen, ihr »Partner im Schmutz« zu sein, wie wir es zu nennen pflegten.
»Wie in den guten alten Zeiten, so wie es immer war«, sagte ich. Dann wusch ich das Besteck und das Geschirr im heißen Seifensud in dem Porzellanspülbecken, das so alt ist wie das Haus.
Nana trocknete alles so schnell ab, wie ich es ihr reichte. Ihre Finger waren immer noch so flink wie ihr Verstand. »Ich wünschte, wir wären älter und weiser «, meinte sie.
»Ich weiß immer noch nicht, warum ich Spülhände bekommen muss.«
»Ich habe dir was verschwiegen, das ich dir hätte sagen sollen«, erklärte Nana und wurde ernst.
»Okay«, sagte ich und hörte auf, im Schaum herumzuplatschen. »Schieß los.«
»Ich wollte dir nur sagen, dass ich stolz auf dich bin, wie du mit diesen grauenvollen Dingen umgehst, die geschehen sind.
Deine Kraft und deine Geduld haben mir eine Inspiration gegeben. Und ich lasse mich nicht so schnell inspirieren, besonders nicht von Typen wie dir. Ich weiß, es hat auf Damon und Jannie die gleiche Wirkung. Es fehlt ihnen an nichts.«
Ich beugte mich über die Spüle. Ich war in Beichtstimmung.
»Es ist die schlimmste Zeit meines Lebens, das Härteste, was ich je tun musste. Es ist sogar noch schlimmer als damals, als Maria starb, Nana, wenn das überhaupt möglich ist. Damals wusste ich wenigstens mit Sicherheit, dass Maria tot ist. Ich konnte meiner Trauer freien Lauf lassen, konnte Maria irgendwann loslassen, um wieder zu atmen.«
Nana kam zur Spüle und nahm mich in die Arme. Immer wieder erstaunte mich ihre Kraft.
Sie schaute mir fest in die Augen, wie sie es immer getan hatte, seit ich neun Jahre alt war. Dann sagte sie: »Lass auch der Trauer um Christine freien Lauf, Alex. Lass auch sie los.«
G eoffrey Shafer hatte eine attraktive und liebende Frau, und diese widersinnige, auf monströse Weise ungerechte Tatsache belastete mich schwer. Weder als Psychologe noch als Polizist konnte ich sie begreifen.
Die geschickte Zeugenbefragung Lucy Shafers wurde am nächsten Morgen für etwas länger als eine Stunde fortgeführt.
Jane Halpern wollte, dass die Geschworenen noch mehr über Lucys wunderbaren Ehemann hörten.
Endlich kam Catherine Fitzgibbon an die Reihe. Auf ihre Weise war sie ebenso hart und vielleicht ebenso einschüchternd wie Jane Halpern.
»Mrs. Shafer, wir alle haben Ihnen ganz genau zugehört, und es klingt alles sehr schön und sehr harmonisch, was Sie über Ihr Familienidyll erzählt haben. Aber da gibt es etwas, das mich beunruhigt und verwirrt, und ich will Ihnen sagen, was es ist: Ihr Mann hat vor acht Tagen versucht, sich das Leben zu nehmen. Ihr Mann wollte Selbstmord begehen. Deshalb ist er vielleicht nicht ganz so, wie er zu sein scheint. Vielleicht ist er gefühlsmäßig doch nicht so ausgewogen. Vielleicht ist er nicht im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte. Vielleicht irren Sie sich, und er ist gar nicht der Mann, für den Sie ihn halten.«
Lucy Shafer blickte der Staatsanwältin direkt in die Augen.
»In den vergangenen Monaten hat mein Mann erleben müssen, wie seine Karriere, sein guter Name, sein ganzes Leben fälschlicherweise infrage gestellt wurde. Er konnte nicht glauben, dass diese schrecklichen Anschuldigungen gegen ihn erhoben wurden. Diese … diese Hölle auf Erden hat ihn buchstäblich in die Verzweiflung getrieben.
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