Alex Cross 05 - Wer Hat Angst Vorm Schattenmann
distanziert, äußerst reizbar – nicht mehr er selbst.«
Ich wollte mich zu Wort melden. Pittman hatte doch keine Ahnung über Christine und mich!
»Chief Pittman, war Detective Cross je ein Verdächtiger im Zusammenhang mit dem Verschwinden seiner Freundin, Mrs.
Christine Johnson?«
Pittman nickte. »Das ist Standardverfahren bei der Polizei.
Ich bin sicher, dass man ihn vernommen hat.«
»Aber sein Verhalten im Dienst hat sich seit dem Verschwinden Mrs. Johnsons verändert?«
»Ja. Seine Konzentration ist nicht wie früher. Er hat mehrere Tage im Dienst gefehlt. Steht alles in den Akten.«
»Hat Detective Cross um professionelle Hilfe gebeten?«
»Ja.«
»Haben Sie ihn persönlich aufgefordert, Hilfe zu suchen?«
»Jawohl. Ich habe mehrere Jahre mit ihm zusammengearbeitet. Er steht unter Stress.«
»Er steht unter sehr großem Stress. Könnte man das so sagen?«
»Ja. In letzter Zeit hat er nicht einen einzigen Fall abgeschlossen.«
Halpern nickte. »Sie haben einige Wochen vor dem Mord an Hampton mehrere Detectives vom Dienst suspendiert – Männer, mit denen Detective Cross befreundet war?«
Pittman blickte ihn ernst an. »Leider blieb mir keine Wahl.«
»Warum haben Sie diese Detectives suspendiert?«
»Sie haben in Fällen außerhalb des Zuständigkeitsbereichs ihres Dezernats ermittelt.«
»Könnte man sagen, die Detectives stellten ihre eigenen Regeln auf und gingen wie eine Art Selbstschutztruppe vor?«
Catherine Fitzgibbon sprang auf und erhob Einspruch, doch Richter Fescoe ließ die Frage zu.
Pittman antwortete: »Ich weiß nicht … Selbstschutztruppe ist ein bisschen stark. Aber sie haben ohne ordnungsgemäße dienstliche Überwachung gearbeitet. Der Fall wird noch untersucht.«
»Gehörte Detective Cross zu dieser Gruppe, die nach ihren eigenen Regeln vorging, um Mordfälle zu lösen?«
»Ich bin nicht sicher. Aber ich habe in dieser Angelegenheit mit ihm gesprochen. Ich dachte, zum damaligen Zeitpunkt könnte er eine Suspendierung nicht ertragen. Ich verwarnte ihn und ließ es dabei bewenden. Das hätte ich nicht tun sollen«, sagte Pittman.
»Keine weiteren Fragen.«
Die sind auch nicht nötig, dachte ich.
N achdem Shafer abends das Gerichtsgebäude verließ, schwebte er auf Wolke sieben. Er dachte, er würde das Spiel gewinnen. Er war völlig überdreht, total gaga , und fühlte sich gleichzeitig gut und böse. Er parkte in der dunklen Garage unter dem Gebäude, in dem Boo Cassady wohnte. Die meisten an einer Manie erkrankten bemerken die Anzeichen einer manischen Episode nicht, doch Shafer wusste Bescheid. Seine »Spiralen« kamen nicht aus dem Nichts; sie bauten sich auf, verstärkten sich.
Ihm entging keineswegs die Ironie und die Gefahr, wieder in diesem Gebäude zu sein; Täter kehrt an den Schauplatz des Verbrechens zurück und dieser ganze Mist. Shafer wollte an diesem Abend ins Southeast fahren, aber das war zu riskant. Er konnte noch nicht jagen – nicht jetzt. Ihm schwebte etwas anderes vor: die nächsten Züge in seinem Spiel.
Es war ungewöhnlich, wenn nicht beispiellos, dass der wegen Mordes Angeklagte frei herumlief, aber es war eine der Voraussetzungen dafür gewesen, dass er seine diplomatische Immunität ablegte. Welche Wahl hatte er der Staatsanwaltschaft gelassen? Überhaupt keine. Hätte der Staatsanwalt nicht zugestimmt, besaß Shafer noch immer seinen Diplomatenpass, der ihn vor dem Gefängnis bewahrte.
Shafer folgte einem Mieter, den er mehrmals gesehen hatte, von der Tiefgarage zum Aufzug und fuhr zu Boos Wohnung hinauf. Er klingelte und wartete. Dann hörte er sie über den Parkettboden kommen. Ja, der erste Akt der heutigen Abendvorstellung fing gleich an.
Er wusste, dass Boo ihn durch den Türspion beäugte, so wie er Alex Cross an jenem Abend beäugt hatte, als Patsy Hampton genau den Nachtisch bekommen hatte, den sie verdiente. Seit seiner Haftentlassung hatte er Boo ein paar Mal gesehen, dann aber die Beziehung abgebrochen.
Als er sich nicht mehr mit Boo treffen wollte, war die Gute durchgedreht. Sie hatte ihn im Büro angerufen, dann zu Hause und ständig am Autotelefon, bis er schließlich die verdammte Rufnummer ändern ließ. Zu den schlimmsten Zeiten hatte sie ihn an die Irre erinnert, die Glenn Close in »Eine verhängnisvolle Affäre« gespielt hatte.
Er fragte sich, ob sie immer noch nach seiner Pfeife tanzte.
Sie war eine ziemlich intelligente Frau, und das machte einen Großteil ihres Problems aus. Sie dachte viel zu viel,
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