Alex Cross 8 - Mauer des Schweigens
holte mir noch ein Bier aus dem Kühlschrank und ging nach oben. In Gedanken war ich immer noch bei Jamilla.
Schöne Gedanken. Nichts außer blauem Himmel …
Ich öffnete die Schlafzimmertür und blieb wie angewurzelt stehen. Dann schüttelte ich den Kopf.
Auf meinem Bett standen zwei große Glasbehälter. Hübsch.
Vielleicht Antiquitäten.
Sie waren mit schätzungsweise eintausendzweihundert Katzenaugenmurmeln gefüllt.
Ich ging zum Bett und nahm eine Murmel heraus.
Ich rollte die Murmel zwischen Daumen und Zeigefinger und musste zugeben, dass sie sich kostbar anfühlte.
Die Samstage, die mir noch blieben.
Wie würde ich sie nutzen wollen?
Vielleicht war das das größte Geheimnis.
78
In den nächsten Tagen hatte ich das Gefühl, dass ich in Washington beschattet wurde. Observiert. Aber ich vermochte sie nicht zu erwischen. Entweder waren sie sehr gut, oder ich schwächelte stark.
Am Montag war ich wieder an meinem Arbeitsplatz. Die ganze Woche widmete ich meine gesamte Zeit der Arbeit im Dezernat. Ich sorgte dafür, dass ich mit den Kindern ein paar Extrastunden verbrachte, ehe ich mich in mein Arbeitszimmer auf dem Speicher zurückzog. Ein Colonel im Pentagon namens Daniel Boudreau war zu gewisser Zusammenarbeit bereit. Er schickte mir Armeeaufzeichnungen aus dem Vietnamkrieg.
Riesenstöße von Papier, die offenbar seit Jahren niemand gesichtet hatte. Er schlug ferner vor, dass ich mit der Botschaft Vietnams Kontakt aufnehmen sollte. Dort lagerten auch Unterlagen.
Ich las in den alten Akten, bis ich Kopfschmerzen bekam und die Augen nicht mehr offen halten konnte. Ich suchte nach irgendetwas, das Ellis Cooper, Reece Tate, Laurence Houston, James Etra, Robert Bennett oder Tran van Luu mit der Mordserie verknüpfte.
Ich fand keinerlei Verbindung, nichts auch nur annähernd Aussichtsreiches. War das möglich?
Keiner der Männer hatte gemeinsam mit einem der anderen in Asien gedient.
Spät abends erhielt ich wieder eine E-Mail vom Fußsoldaten.
O Gott. Offensichtlich war er nicht Owen Handler. Wer schickte mir diese Nachrichten? Kyle Craig? Versuchte er immer noch, mit mir zu spielen? Wie konnte er die Nachrichten aus dem Hochsicherheitsgefängnis hinausbekommen?
Jemand schickte sie, und das gefiel mir ganz und gar nicht.
Außerdem traute ich den Informationen nicht, die ich erhielt.
Wollte man mir auch etwas in die Schuhe schieben?
Detective Cross,
Ich bin ein bisschen enttäuscht, dass Sie so wenig Fortschritte machen. Sie sind auf einer guten Spur, dann verlassen Sie diese wieder. Die Antworten liegen alle in der Vergangenheit. Ist das nicht immer so?
Fußsoldat
Aber diesmal war unter der Nachricht noch ein sehr beunruhigendes Symbol – eine Strohpuppe. Genau wie diejenigen, die wir gefunden hatten.
An diesem Mittwoch besuchte ich die vietnamesische Botschaft an der Twentieth Street in Northwest. Das FBI hatte für mich angerufen. Ich kam kurz nach sechs Uhr und ging in den dritten Stock. Dort erwartete mich eine Übersetzerin. Sie hieß Thi Nguyen. Auf ihrem Schreibtisch standen vier große Kartons mit alten Unterlagen, die ihre Regierung aufbewahrte.
Ich saß in Thi Nguyens kleinem Büro, und sie las mir gewisse Passagen vor. Ich merkte deutlich, dass sie es nicht gern tat.
Ich nahm an, dass man ihr befohlen hatte, diese Überstunden zu machen. Auf der Wand hinter ihr hing ein Schild: BOT-SCHAFT DER SOZIALISTISCHEN REBUBLIK VIETNAM.
Daneben noch ein Porträt Ho Chi Minhs.
»Hier ist nichts, Detective. Nichts Neues«, beschwerte sie sich, als sie die verstaubten Akten durchging, die über dreißig Jahre alt waren. Ich bat sie, nicht aufzugeben. Sie seufzte laut, rückte ihr schwarzes Brillengestell zurecht und vergrub sich mit verärgerter Miene in die nächste Akte. Dieses Ritual dauerte noch etliche Stunden an. Ich fand sie unglaublich unsympathisch.
Gegen neun Uhr blickte sie mich überrascht an. »Hier ist etwas«, sagte sie. »Vielleicht suchen Sie danach?«
»Bitte, übersetzen Sie es mir wörtlich.«
»Das habe ich die ganze Zeit getan, Detective. Laut diesen Unterlagen gab es nicht genehmigte Angriffe auf kleine Dörfer im Tal An Lao. Zivilisten wurden getötet. Und das geschah ein halbes Dutzend Mal . Jemand wusste offenbar darüber Bescheid. Vielleicht sogar Ihr Militärberater-Kommando.«
»Sagen Sie mir alles, was da steht«, wiederholte ich. »Bitte, lassen Sie nichts weg.«
Die Langeweile und Gereiztheit, die sie bisher gezeigt hatte, war wie weggeblasen.
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