Alex Cross - Cold
langsam spürte sie die ersten Zweifel.
»Hala?« Tarik war aufgewacht. »Ha-laa. Schalt aus. Du regst dich nur wieder auf.«
»Es ist immer dasselbe«, sagte sie. »In jedem Programm. Dasselbe Blabla, dieselben Filme.«
»Ich weiß«, erwiderte er. »Darum sollst du ja ausschalten. Lass den Fernseher aus, mein Liebling.«
Sie streckte die Hand aus und erstarrte. Im fahlen Licht des Bildschirms entdeckte sie etwas auf dem Fußboden: ein glänzendes Blatt Papier, eine Broschüre oder etwas in der Art.
Jemand hatte in der Nacht etwas unter ihrer Tür hindurchgeschoben.
Noch bevor sie wusste, was es war, fing Halas Puls an zu rasen.
»Was ist das?«, wollte Tarik wissen. »Wann ist das gekommen? Wer hat das gebracht?«
»Das ist ein Prospekt vom Smithsonian«, sagte sie und hielt es unter die Nachttischlampe. »Das Naturkundemuseum. Ich bin mir ganz sicher, dass das gestern Abend noch nicht da gelegen hat.«
Sie falteten den Prospekt auf dem Bett auseinander.
Im Inneren der Broschüre war ein Plan mit den verschiedenen Galerien und Sonderausstellungen des Museums zu sehen. Es war ein ganz normales Informationsblatt, wie es jeder x-beliebige Tourist irgendwo mitnehmen konnte. Keinerlei Anweisungen oder zusätzliche Markierungen. Aber war das nicht genau die Rolle, die sie und Tarik spielen sollten, einfach nur x-beliebige Touristen?
»Hier steht, dass es um zehn Uhr öffnet«, las sie vor.
Für Hala war klar, was das zu bedeuten hatte. Endlich war die Kontaktaufnahme erfolgt.
18
Nun war es also so weit. Ihre Mission hatte begonnen. Hatte es etwas mit den entführten Präsidentenkindern zu tun? Das war sehr gut möglich.
Irgendwie seltsam, dass sie genauso sehr im Dunkeln tappten wie alle anderen hier in Washington. Seltsam, aber gleichzeitig auch großartig, oder etwa nicht? Die FAMILIE gab ihnen nur die Informationen, die sie brauchten, um ihre Pflicht zu erfüllen... nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Um halb zehn verließen die Al Dossaris ihr Hotel und gingen durch die Glas- und Betonschlucht der Twelfth Street bis zur National Mall. Nur wenige Minuten nach der Öffnung schritten sie zwischen den hohen Säulen hindurch, die den Eingang des Museum of National History bildeten, und fügten sich mühelos in die Schar der Touristen aus aller Herren Länder und der Schulklassen ein, die bereits in die Ausstellungsräume geströmt waren. Jetzt ging es los.
Aber so war es nicht.
Die nächsten beiden Stunden durchstreiften sie das Museum in einem Zustand permanenter Aufregung und Enttäuschung. Hala kam an Schaukästen mit konservierten Meerestieren, Fossilien und afrikanischen Artefakten vorüber, ohne etwas wahrzunehmen. Stattdessen musterte sie die Gesichter der anderen, suchte nach irgendeinem Zeichen, nach irgendetwas, was ihnen verraten würde, warum sie hier waren. Das Warten und die Anspannung wurden langsam schmerzhaft. Die Grenze des Erträglichen war erreicht.
Erst als sie das fünfte oder sechste Mal durch die Rotunde des Museums gingen, passierte etwas.
Eine dunkeläugige junge Frau mit einer verschnörkelten Tätowierung am Hals blickte Hala vom anderen Ende des Saals aus direkt in die Augen. Sie hielt den Blickkontakt etliche Sekunden lang aufrecht, dann wandte sie sich überdeutlich dem riesigen Elefantenbullen zu, der den Raum zwischen ihnen dominierte.
Hala blieb stehen und besah sich die Schautafeln, dann warf sie der jungen Frau noch einen Blick zu. Wieder starrte diese sie an. Gehörte sie zur FAMILIE ? Oder spielte Halas überhitzte Fantasie ihr einen Streich?
»Tarik?«, sagte sie.
»Ich sehe sie«, meinte er. »Geh. Ich glaube, sie will mit dir reden.«
Er blieb stehen, während seine Frau langsam weiterging, ohne die Fremde aus den Augen zu lassen. Sie war vermutlich eine Saudi, aber gekleidet wie eine amerikanische College-Studentin. Zerrissene Jeans, eine bestickte Bluse und abgewetzte Clogs. Dazu hatte sie eine leuchtend bunte Guatemala-Tasche über der Schulter hängen. Sie schien voll zu sein. Bücher? Oder vielleicht eine Bombe? Für hier? Für jetzt?
Als Hala an der Rückwand der Galerie angelangt war, kam die junge Frau auf sie zu und sprach sie an.
»Bitte entschuldigen Sie. Wissen Sie vielleicht, wo der Reptiliensaal ist?«
Überrascht registrierte Hala ihren perfekten amerikanischen Akzent. War sie womöglich erst hier in den Staaten rekrutiert worden? Oder, dachte Hala plötzlich, war es gar nicht das, was sie vermutete? War diese junge Frau eine
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