Alice Bhattis Himmelfahrt - Hanif, M: Alice Bhattis Himmelfahrt
gekommen ist. Sie hatte ihm die Adresse auf einen Zettel gekritzelt und ihm eingeschärft, nach Dr. Pereira zu fragen. Aber manchmal sagt sie seltsame Dinge, zum Beispiel fragt sie, was der Unterschied zwischen einem Arzt und einem Esel sei. Mitunter sagt sie so etwas auch in einem Raum voller Ärzte. Als Alice aus der Besserungsanstalt entlassen wurde, hat Noor es geschafft, einen Notdienst für sie zu ergattern, zu dem sie in Straßenkleidung und einem viel zu großen, weißen Kittel erschien. Unter dem fleckigen, ausgefransten Ding hätte sie durchaus ein kürzlich vor die Tür gesetztes Hausmädchen oder eine arbeitslose Prostituierte sein können. Sie kam ihm vor wie eine unfeine, arme Verwandte, die ausgerechnet in dem Moment auftauchte, in dem er versuchte, einen guten Eindruck auf seine neuen Vorgesetzten zu machen. Nun ist es seine größte Sorge, den Ablauf des Interviews auf die Minute genau festzuhalten. Auch nachdem Alice längst gegangen ist, kritzelt er eifrig weiter.
Dr. Pereira nickt ihm kaum merklich zu – für Noor das Signal, den Raum unter einem Vorwand zu verlassen. „Soll ich den Tee bringen?“, fragt Noor. Behutsam schlägt er den Ordner zu, legt ihn auf seinen Stuhl und geht. Kaum hat er die Tür geschlossen, rennt und hüpft er los. Im Büro ist er ein nachdenklicher, beflissener Lakai, aber draußen in den Gängen des Herz Jesu übt er sich ungeachtet der großen Verantwortung, die auf seinen jungen Schultern ruht, ein bisschen in der Unbeschwertheit, die einem Siebzehnjährigen zusteht.
Wenn die Leute ihn so sehen, bekommt so mancher Mitleid mit dem armen Jungen, der vor lauter Arbeit überhaupt keine Zeit zum Spielen hat. Aber wenn es nach Noor geht, können sie sich ihr Mitleid sparen, denn er hält sich für einen Mann von Welt. Besser noch als an die rauen Nächte in der Besserungsanstalt erinnert er sich an das Warten vor den Toren des Herz Jesu. Zwei ganze Tage hatten Zainab und er dort gestanden, und obwohl an diesem Tor nicht jeder angehalten wird, ließen die Wachen sie nicht durch, weil sie wie ein Landstreichergespann aussahen, die Art von Leuten, die versuchen, durch jedes Tor zu marschieren, das sie sehen. Jemand warf ihnen eine halb verfaulte Orange hin. Ein Bettler trat eigens an sie heran, um sie darüber aufzuklären, dass sie sich nicht gerade den besten Platz für ihren Einstieg in die Branche ausgesucht hätten.
Damals konnte man ihn wirklich einen armen Jungen nennen, denn er war Zainabs einziges Kind und hatte niemanden auf der Welt außer ein paar guten Freunden im Gefängnis, die ein altes Paar Hosen für ihn geändert und ihm einen Zehn-Rupien-Schein in die Tasche gesteckt hatten. Sie würden ihn besuchen, versprachen sie, wenn er dereinst in einer großen Bank angestellt sein würde. Doch mittlerweile ist Noor kein armer kleiner Junge mehr. Er ist Stationsjunge. Sein Name steht nicht im Personalregister, aber er hat mehr Aufgaben als jeder festangestellte Sanitäter mit Pensionsberechtigung. Seine Arbeit wird anerkannt. Zainabs Gesundheitszustand ist vielleicht nicht der beste, aber sie hat ihr eigenes, nach oben und unten verstellbares Bett mit einem Kissen, einer Decke und Laken, die alle paar Wochen gewechselt werden. Ein Vorhang trennt sie von den anderen Elenden auf der Station. Es gibt Hunderte Patienten, die dieses Bett neidisch beäugen. Jeder, der unter dem Old Doctor sitzt, steht praktisch auf der Warteliste.
Drei Jahre hat Noor gebraucht, um all das zu erreichen, aber jetzt ist er ein Mann. Er bringt Essen auf den Tisch, obwohl kein Tisch da ist. Er führt die Krankenhausakten. In der Nacht nach dem Anschlag in Garden East, als die Ärzte und Schwestern alle Hände voll zu tun hatten, hat er eine Kugel aus der Schulter eines Opfers entfernt. Er hat „Gray’s Anatomy“ nicht gelesen, aber alles, was in diesem dicken Anatomiebuch steht, hat er bereits auf dem Boden der Notaufnahme ausgebreitet gesehen. „In der Nacht haben wir einhundertdreiundvierzig Leute zusammengeflickt“, prahlt er vor jedem, der sich für solche Statistiken interessiert. Außerdem hatte man von den Angehörigen aller Verstorbenen für die Nichtdurchführung einer Obduktion fünfhundert Rupien verlangt. Die behandschuhten Hände des Rechtsmediziners Dr. Malick troffen vor Blut, während aus den Taschen seines weißen Kittels die Fünfhundert-Rupien-Scheine quollen. „Wir leben in einer Stadt, in der man für tausend Rupien jemanden aufschlitzen lassen kann. Was ist
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