Alice Bhattis Himmelfahrt - Hanif, M: Alice Bhattis Himmelfahrt
irgendwann muss sie sterben. Sie hat wahrscheinlich ein Leben geführt, das Trauerredner dazu verleitet, mit der gleichen gespielten Bewunderung, die sonst rauschenden Hochzeiten und glänzenden Geburtstagsfeiern vorbehalten ist, von einem „erfüllten Dasein“ zu sprechen. Zwei feiste Söhne am Tisch, ein Heer von Leibwächtern vor der Tür und ein Fahrzeug mit einem schneidigen Nummernschild genügen als Beweise für ein gutes Leben. Außerdem ist da sicher noch mehr: Tresore voller Schmuckstücke und ausgeklügelte, von Familienanwälten erstellte testamentarische Verfügungen. In den Zeitungen werden teure Traueranzeigen mit einer langen Liste von Trauernden erscheinen, so illuster, dass jedes Blatt sich weigern wird, Geld dafür zu verlangen.
Wolf Blitzer kehrt wie versprochen zurück, um in verzweifeltem Moderatorenton zu fragen: „Kann man mit den Bösen wirklich gute Geschäfte machen? Wo soll das alles hinführen?“
Alice merkt, dass der jüngere, glatt rasierte Mann von einer gewissen Unruhe befallen wird. Er kann sich nicht mehr auf die Karten konzentrieren und schiebt seinem älteren Mitspieler geistesabwesend ein Bündel Geldscheine zu. Junior stellt sich vor, ich wäre nackt, denkt Alice. Es erstaunt sie immer wieder, dass Männer, selbst in einem Sterbezimmer, nur an das Eine denken. Ein Auge auf die sterbende Mutter, das andere auf die Brüste der Krankenschwester gerichtet. Sie ist erleichtert, dass es offenbar keine Rolle spielt, ob sie in der verdreckten Station für die Allgemeinheit oder in einem VIP-Zimmer Dienst tut. Manche Regeln gelten überall. Zum ersten Mal, seitdem sie hier ist, fühlt sie sich zu Hause und gestattet sich ein kleines Lächeln.
In einem ihrer Vorträge hat Schwester Hina Alvi ihr erklärt: „Die Trauernden wollen sich an jemandem festhalten. Damit klammern sie sich auch ans Leben. Sie wollen getröstet werden. Und es ist deine Aufgabe, ja, deine Pflicht, genau das zu tun, ohne mit ihnen zu flirten. Einige bringen das durcheinander und damit unseren Stand in Verruf. Auch deshalb bekommt der durchschnittliche Mann sofort eine Erektion, wenn er das Wort ‚Krankenschwester‘ hört.“
Junior räuspert sich. „Könnten wir bitte etwas Kuchen bekommen?“, fragt er. Alice bemerkt amüsiert, dass Leute wie er nicht zwischen einer Krankenschwester und einer Hausangestellten unterscheiden können. Alte Familien behandeln alle Menschen wie Dienstboten. Lächelnd schneidet sie ein dickes Stück ab, legt es auf einen Teller und knallt ihn auf den Tisch. Als sie sich zum Gehen wendet, hält Junior sie auf. „Heben Sie bitte eine Karte auf.“ Nach kurzem Zögern bückt sich Alice und nimmt eine Karte von dem Stapel. In diesem Moment spürt sie seinen stechenden Blick in ihrem Ausschnitt. Sie reicht ihm die Karte, und er nimmt einen Tausend-Rupien-Schein vom Tisch und wedelt damit vor ihrer Nase herum. „Hier, Sie haben gewonnen.“ Alice hat nichts dagegen, kleine Geschenke von Patienten und ihren Angehörigen anzunehmen, aber tausend Rupien hat ihr bisher noch niemand angeboten. „Es ist mir nicht erlaubt, während meiner Dienstzeit Karten zu spielen“, sagt sie und geht zu ihrem Stuhl zurück. Dann schaut sie ihn an und fügt hinzu: „Aber haben Sie vielen Dank.“ Sie will niemanden beleidigen.
Als sie wieder auf dem Stuhl sitzt, überlegt sie, ob sie die Männer bitten soll, auf einen anderen Sender umzuschalten. In dem Moment steht Junior auf und deutet auf den Fernseher. „Darf ich lauter machen?“, fragt er. Alice nickt verwirrt. Er nimmt die Fernbedienung und dreht den Ton auf. Wolf Blitzer weiß noch immer nicht, wo alles hinführen soll, ist aber mittlerweile bei den schlechten Geschäften angelangt, die die Guten gemacht haben.
Junior stellt sich neben Alice. So nah, dass sein Schritt sich direkt vor ihrem Gesicht befindet. Der Duft seines süßlichen Parfüms ist so überwältigend, dass sie den Atem anhalten muss, um nicht zu niesen. Sie will aufstehen. Er drückt sie mit einer Hand auf den Stuhl zurück, zieht einen Revolver aus dem Hemd und steht mit leerer Miene da, als hätte er vergessen, was er vorhat. „Blas mir einen“, sagt er leise, als würde er um noch ein Stück Kuchen bitten, und deutet mit dem Revolver auf seinen Schritt.
Alice Bhatti wird klar, dass all ihre Bemühungen und Träume in diesem VIP-Zimmer enden werden. Sie fragt sich, ob Schwester Hina Alvi oder Dr. Pereira von dieser Familientradition wissen. Sie fürchtet, wieder in
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