Alice Bhattis Himmelfahrt - Hanif, M: Alice Bhattis Himmelfahrt
Surf und sein Nummernschild beeindrucken Alice Bhatti nicht. Sie hat bereits genügend Nummernschilder mit Spitznamen, poetischen Schnörkeln, Familientiteln, fiktiven Städten und Großstadtlegenden gesehen. Diesen kindischen Drang, sich wichtig zu machen, findet sie nicht lustig. Teufel – das passt, denkt sie. Warum beten sie nicht zum Wüstenteufel für ihre Begum Qaz?
Als sie den Gang betritt, der zum VIP-Zimmer 2 führt, trifft sie auf eine Gruppe Männer, eine kleine Armee in schwarzen Shalvar Kamiz, die inmitten eines Durcheinanders von Kalaschnikows von rostfreien Stahltellern essen. Sie reichen ein Naan von der Größe einer Tischdecke herum und diskutieren begeistert die Vor- und Nachteile der einzelnen Gefängnisse im Land. Einer behauptet, das Machh sei zwar so gut wie ausbruchssicher, aber auch das einzige Gefängnis, dessen Waschräume über fließendes Wasser verfügten. „Ich habe noch nie im Leben so viel geduscht.“
„Geduscht?“, höhnt ein anderer mit vollem Mund. „Bestimmt hast du deinen Freunden aus der Todeszelle einen runtergeholt. Hat man dich nicht ‚Die Helfenden Hände‘ genannt?“ Kichernd schlägt der Mann aus dem Zentralgefängnis in Machh mit einem Stück Naan nach dem Witzbold.
Alice Bhatti bleibt stehen und überlegt, wie sie sich verhalten soll, als ein älterer Mann, dessen hennagefärbter Schnurrbart zu seinem argwöhnischen Blick passt, sie bemerkt.
„Lasst sie vorbei.“ Er schiebt die Teller beiseite.
„Jemand muss sie durchsuchen“, ruft der Todeszellen-Stricher. Die Männer unterbrechen ihre Mahlzeit, bleiben aber mit gesenkten Köpfen sitzen. Das Einzige, was sie im Gefängnis offenbar nicht gelernt haben, ist einzuschätzen, wann eine Frau keine Bedrohung mehr darstellt.
„Wie sollen wir sie durchsuchen?“, fragt ein anderer. „Siehst du nicht, dass das eine Frau ist?“
„Eine Schwester“, fällt der Nächste ein und leckt sichmit seiner roten Zunge die Soße aus dem Schnurrbart.
Teller werden beiseite geräumt, das Brot wird zusammengerollt. Vier Augenpaare folgen Alice Bhattis Schritten, mit dem Blick von eingesperrten Tieren, die gerade Respekt vor ihrem neuen Herrn gelernt haben.
Die Doppeltür schließt sich mit einem diskreten, teuren VIP-Klicken. Ein Windstoß aus der Hochleistungsklimaanlage trifft Alice im Gesicht. Es duftet nach Rosen. Später zählt sie acht Sträuße in verschiedenen Größen. Außerdem riecht es stark nach Coffee Cake und grünem Tee. Alice mustert die Patientin. Sie ist eine dicke Frau mit rosigen Wangen und silbergrauem Haar – die Art von Frau, die man als große alte Dame bezeichnen würde –, die sich tapfer ihrer Krankheit widersetzt. Ihr Oberkörper ist von einem zweifarbigen Shawl aus Shatush bedeckt. Eine Insassin in der Besserungsanstalt hat Alice einmal erzählt, dass ein solcher Schal ungefähr so viel kostet wie ein Haus mit zwei Schlafzimmern. Auf einem großen Porzellanteller auf dem Nachttisch liegt ein angebissenes Sandwich.
Zwei Männer von unbestimmbarem Alter und Verwandtschaftsverhältnis – sie könnten dreißig oder fünfzig, Brüder oder Onkel und Neffe sein – sitzen in der Couchecke, trinken Tee und spielen in aller Ruhe Poker. Der Tisch ist für drei gedeckt, aber der dritte Platz ist leer, und die beiden übernehmen abwechselnd die Position des abwesenden Spielers. Vielleicht eine alte Familiensitte beim Geldadel, denkt Alice. Sie sehen sie an und nicken mit höflichem Desinteresse. Ihre Gesichter sind aufgedunsen. Zu viele durchzechte Nächte und schwindende Illusionen von Macht. Das einzige Geräusch ist das Knistern eines neuen Tausend-Rupien-Scheins. Wirklich ein Sterbezimmer, denkt Alice.
Sie schaut sich die Krankentabelle an, nestelt am Infusionsbeutel, hält Ausschau nach einer Bettpfanne. Die Männer spielen ruhig und äußerst konzentriert, als folgten sie einem alten Familienritual, als hinge das Leben ihrer Mutter oder ihr glückliches Ende vom Ausgang dieses Kartenspiels ab. Auf einem kleinen Fernseher verspricht CNN-Moderator Wolf Blitzer, in einer Minute wieder da zu sein. Models aus einem afrikanischen Entwicklungsland schreiten in BHs aus Kokosnussschalen und Elefantenknochen einen Laufsteg entlang. Alice setzt sich auf den Stuhl am Bett und fragt sich, wie das Leben dieser Frau wohl verlaufen sein mag. Ihre Vitalfunktionen sind intakt, aber es besteht die Gefahr eines Nierenversagens. Regelmäßig durchgeführte Bluttransfusionen erhalten sie am Leben, doch
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