Alicia II
immer noch lebten.
»Du bist ja ganz hingerissen«, flüsterte Alicia.
»Ich habe das Interesse eines Außenseiters an religiösen Angelegenheiten. Ich war einmal Katholik. Wir geben nie ganz auf.«
»Ich war einmal zwei Tage lang Katholikin.«
»Nur zwei Tage lang?«
»Es war Sommer, und die Luft war schlecht, und die Katholiken hatten den angenehmsten Unterschlupf in der ganzen Stadt. Man konnte dort sitzen und sich gegen Kissen lehnen. Nicht sehr asketisch, aber eine Religion, die Kissen zur Verfügung stellt, könnte ich beinahe ertragen.«
»An Kissen erinnere ich mich aus meiner katholischen Kinderzeit nicht.«
»Ich vermute, es war etwas wie eine Erweckungsbewegung. Um einer sterbenden Religion neues Leben einzuhauchen, so in der Art …«
»Immer wird behauptet, der Katholizismus sterbe. Das ist eine der Methoden, mit der sie ihn am Leben erhalten.«
»Vielleicht, aber damals hätte ich mich beinahe bekehrt. Vielleicht waren die Kissen präpariert – daß sie Glauben oder Reue ausstrahlten, was gerade gebraucht wurde –, so wie es eine Zeitlang im Theater war.«
»Ich war einmal in einer solchen Vorstellung.«
Abwechselnd verhieß Rosalie Wunder und schüchterte ihre Gemeinde ein. Einmal schlug und trat sie zwei Kirchenmitglieder, die von anderen auf den Boden geworfen worden waren. Sie schienen dafür dankbar zu sein. Die Andacht endete damit, daß die Raumbeleuchtung matter wurde und dafür mehr Licht von der St. Ethel-Statue ausstrahlte. Aus verborgenen Lautsprechern erklang flotte Musik. Die Leute hatten es nicht eilig, die Kirche zu verlassen. Sie umringten Rosalie und neigten sich ihr entgegen. Langsam ließ sie den Blick wandern. Ich hatte den Eindruck, daß sie jede einzelne Person kurz ansah. Ihr dünnes Lächeln verhieß Seligkeit. Nach und nach wanderten die Leute zu zweit und zu dritt hinaus.
Rosalie blieb auf ihrem Platz, bis der letzte gegangen war.
Dann versteifte sich ihr Körper. Forschen Schrittes näherte sie sich dem Altar und gab unsichtbaren Assistenten Anweisungen, dies und jenes abzuschalten und dies und jenes beim nächsten Mal anders zu machen.
20
»Du willst uns also nicht helfen?« fragte Alicia. Sie hatte wieder ihre Straßenkleidung an und sah ganz wie eine berufstätige Frau aus.
»Ich weiß es nicht. Aber ich verstehe nicht, warum ihr gerade meine Hilfe braucht.«
»Wir brauchen nicht nur deine Hilfe. Es stimmt schon, du hast Fähigkeiten, die heutzutage Mangelware sind. Aber wir brauchen alle Hilfe, die wir bekommen können, um ein System zu zerschmettern, das …«
Ein Geräusch von der Straße her unterbrach sie, und sie erkannte eher als ich, daß es Unheil verkündete. Sie eilte an das kleine Fenster und murmelte vor sich hin.
»Was ist los?« fragte ich.
»Nur die Dorfpolizei. Die üblichen Schikanen.«
Ich blickte aus dem Fenster. Zwei amtlich aussehende Männer versuchten, Rosalie einzuschüchtern, während Rosalie aufrecht dastand und ganz den Eindruck machte, als schüchtere sie die Polizisten ein.
»Wir sollten von hier verschwinden«, sagte Alicia.
»Warum?«
»Es schadet der Sache, wenn ich hier entdeckt werde. Doch natürlich kann es sein, daß sie bereits wissen, wo ich bin.«
»Ich verstehe nicht. Es ist doch dein Beruf, mit den Ausgemusterten zu arbeiten, und …«
»Sicher, aber trotzdem würden sie es übel vermerken, daß ich bei Rosalie bin. Es ist ihnen nie gelungen, sie bei irgend etwas zu erwischen, aber ihr Spionagenetz ist weitverzweigt und leistungsfähig. Sie wissen eine Menge über Rosalies Arbeit. Abgesehen davon täte es meinem Image als Sozialarbeiterin nicht gut, wenn ich in einem Hinterzimmer zusammen mit dir
Weitere Kostenlose Bücher