Alicia II
die Periode der Dunkelheit sehr lang sein, selbst wenn einer deiner Pläne Erfolg hat. Wenn du mit einem funkelnagelneuen Körper zum Vorschein kommst, mag sich Alicia in eine alte Hexe verwandelt haben. Hast du dir das schon überlegt?«
»Heutzutage wird niemand mehr eine alte Hexe, das weißt du, Ben.«
»Gut, gut, die schöne, aber alte Alicia begrüßt den schönen, aber jungen Voss vor den Toren der Erneuerungskammer. Rote Sonnenuntergänge nehmen für euch ein spezielles Leuchten an und winken mit ihren Fingern zu der Öde draußen hin. Aus dem Boden sprießen durch Zauberkraft Bäume. Die Erneuerungskammer explodiert, weil die wahre Unsterblichkeit entdeckt worden ist, wahrscheinlich von euch beiden. Fortan werden keine Wiederverwertungskörper mehr gebraucht. Ist das romantisch genug für dich? Also besorge dir einen neuen Körper und hör auf, mich mit deiner mißlichen Lage zu behelligen. Die Liebe wird alle Schwierigkeiten überwinden.«
Ben drehte seinen Schreibtischsessel zur Seite und fand etwas an der Wand, das er anstarren konnte.
»Ben, ich bin doch nicht unvernünftig. Ich will dir darin ja gar nicht widersprechen. Aber was soll ich tun?«
Lange Zeit antwortete er nicht. Dann drehte er seinen Stuhl zurück und sah mich an.
»Ich finde, du solltest gar nichts tun. Geh zu deiner Alicia zurück und macht euch das Leben so schön, wie ihr könnt. Tauscht Zärtlichkeiten, amüsiert euch, reist, macht aus eurem Sexualleben, was ihr könnt, sei es befriedigend oder unbefriedigend, oder verzichtet ganz darauf und findet andere Wege, eure tieferen Gefühle auszudrücken.«
Jetzt blickte ich weg. An der gleichen Wand, die er eben angestarrt hatte, entdeckte ich Schattenmuster.
»Du meinst, wir sollen in den Grenzen, die uns gezogen sind, tun, was wir können.«
»Genau. Du willst, was selbstsüchtige Leute immer wollen – ein Wunder. Ich hoffe dagegen, die Wunder kommen zu selbstlosen Leuten. Wie dem auch sei, du und Alicia, ihr solltet zusammenbleiben, solange es geht, und euer Leben, wie ihr es eben fertigbringt, glücklich, scheußlich oder mittelmäßig gestalten. Das Leben braucht nicht ewig zu dauern, und die Liebe auch nicht – ist das etwa kein Kernspruch? Vielleicht gelingt es euch, eine volle Lebensspanne gemeinsam zu verbringen, vielleicht auch nicht. Wo ist da ein Unterschied? Wenn du am Ende der Straße oder der Bahn oder der Brücke des Lebens angelangt bist, kannst du sie vielleicht überreden, daß sie sich dir im Beinhaus anschließt. Und dann werdet ihr beide in gestohlenen neuen Körpern wiedergeboren und könnt euch schadlos halten für das, was euch entgangen ist.«
»Alicia ist gegen das Erneuern, das hast du eben selbst gesagt. Sie wird niemals …«
»Ich weiß. Zum Teil will ich dich quälen, zum Teil denke ich mir aber auch: Wer weiß, wie ihre Einstellung sein wird, wenn sie einmal achtzig ist und mit dem Kopf wackelt? Es ist ein Risiko, und du bist doch stolz auf deine Fähigkeit, Risiken einzugehen. Jedenfalls ist das mein Rat. Und du siehst gar nicht aus, als seist du glücklich darüber.«
»Ben, ich möchte so zynisch sein wie du! Dann könnte ich es akzeptieren, daß …«
Ben schmetterte die Faust auf den Schreibtisch, so daß Papiere davonflatterten und ich erschrocken in meinem Sessel zurückfuhr.
»Verdammt, Voss, das sieht dir ähnlich! Du nennst mich zynisch. Okay, mach es auf deine Art. Ich habe dir meinen Rat gegeben, und du kannst damit anfangen, was du willst. Um den am wenigsten schmerzlichen Weg zu wählen, bist du ja doch zu trübsinnig.«
»Den am wenigsten schmerzlichen Weg?«
»Am wenigsten schmerzlich für Alicia. Und für dich selbst, wenn du es nur einsehen würdest. Okay, wahrscheinlich würde es sowieso nicht klappen. Wenn ich Alicia richtig
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