Alicia II
Schlicht und einfach Mary.«
Ihr Griff um meinen Arm wurde fester. Intimer. Sie schmiegte sich enger an mich, und ihre Hüfte streifte beim Gehen meine. Beinahe hing sie an meinem Körper. Jetzt wurde mir überall warm, und ich entspannte mich ein bißchen.
Verlegenheit war ein gutes Zeichen. Hoffnungsvoll.
»Meine Ma hatte den richtigen Instinkt. Sie warf einen kurzen Blick in meine Wiege und entschied, ein einfacher Name wie Mary sei gut genug für ein einfaches Kind. Ma war nicht ausgemustert. Merkwürdig, aber sie erkannte sofort, daß ich keine Chance hatte. Sie zog mich auf, als sei ich das Kind von jemand anders. Als ich das zweite Mal beim Test versagte, stellte sie alle meine Habseligkeiten hinter die Haustür und sagte mir, ich solle ihr Bescheid geben, wenn die Leute von der Spedition da seien.«
Unter dem falschen und unredlichen Licht dieser Rummelplatzstraße, in diesem Kleid, das alle paar Schritte die Farbe wechselte, kam mir Mary wie die wandelnde Kopie eines menschlichen Wesens vor – aber auch wie ein Gemälde, das man nehmen und vor den Gefahren des draußen tobenden Krieges schützen sollte. Oft vergaß ich, daß die Körper, die wir roh Hüllen nannten, von Menschen bewohnt waren, die verzweifelten, weil ihre Mütter sie haßten, von Menschen, die über ihr unausweichliches Schicksal Witze rissen. Du bist sentimental, hörte ich Bens Stimme mich beschuldigen. Dir blutet das Herz. Und natürlich hatte Ben Verständnis dafür, denn er war am sentimentalsten von uns allen, und ihm blutete das Herz am meisten. Wir weinen, dann lachen wir, dann weinen wir, weil wir gelacht haben, dann lachen wir, weil wir geweint haben – und das ist der Grund, warum Ben und ich die Simpel unserer Rasse sind.
»Ablehnung, das ist der Dreck, den sie uns in schmutzigen Silberlöffeln, in Dreifach-Eishörnchen geben.«
Mir entging nicht, daß sie uns sagte. Die Lüge der Kameraderie würde alles leichter für mich machen, dachte ich.
»Aber ich nehme an, du willst darüber nichts mehr hören, wo wir beide doch dem Beinhaus so nahe sind.«
Beinahe hätte ich gefragt, was sie mit Beinhaus meine, aber es war offenbar Slang, und mir war klar, daß ich mich hüten mußte, mich durch Nichtkenntnis von Slangausdrücken als Erneuerter zu verraten. Nach einem Augenblick des Nachdenkens kam ich auf die offensichtliche und beunruhigende Beziehung zwischen Beinhaus und Erneuerungskammer.
Da sie mich für ausgemustert hielt, entschloß ich mich, in diesem Sinn weiterzuspielen.
»Ich würde dem Beinhaus gern entgehen, das kann ich dir versichern«, sagte ich.
»Ja, nun … ja-a.«
»Wenn meine Zeit gekommen ist, könnte ich mich verstecken …«
»Untertauchen.«
Sie berichtigte mich ungezwungen, beiläufig.
»… hier in Hough. Ich weiß, es ist vergeblich, aber wenn es so aussieht, als würden sie mich festnehmen …«
»Dich fangen.«
»… dann möchte ich an meinem Körper etwas machen lassen, ihn sabotieren. Vielleicht weißt du einen Ort, wo ich mich verstecken – wo ich untertauchen könnte.«
Plötzlicher Argwohn in ihren Augen.
»Vielleicht, Freund, vielleicht.«
Der negative Klang ihrer Versicherung gefiel mir nicht. Das war ein falscher Schritt gewesen. Ich entschloß mich zu einem Rückzieher und fiel in den gleichen verzweifelten Ton wie sie vorhin.
»Ach, es hat ja alles keinen Zweck. Ich werde mich vor dem Beinhaus anstellen wie alle anderen … alle anderen …«
»Ein Geschenkpaket für einen Unsterblichen.«
Sie wandte ihre Aufmerksamkeit von mir ab und den vorbeigehenden Leuten und Gebäudefassaden zu, als stelle sie eine Namensliste für die Jury auf. In diesem Augenblick hatte ich Angst.
»Komm«, sagte sie schließlich. Sie zog an meinem Arm, damit ich
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