Alissa 1 - Die erste Wahrheit
Finger stillzuhalten.
Bailic erhob sich und trat an seine Regale. Er brauchte diese Salbe. Der Vogel hatte ihn angegriffen und ihm die Hände zerkratzt, als er heute Nachmittag versucht hatte, die herumsausende Gestalt mit einem Bann der Reglosigkeit zu fixieren.
Zumindest hatte er seine Tarnung des besorgten Gastgebers nicht allzu schwer beschädigt, dachte er in hochmütiger Verachtung. Ein Mensch, der einem Meister als Sprachrohr diente, erwachte stets ohne jegliche Erinnerung daran. Und der Pfeifer, dachte Bailic schnaubend, hatte sich sogar noch vor dem Mädchen der Willenlosigkeit ergeben. Der würde sich wohl an überhaupt nichts erinnern. Es wäre leichtsinnig zu glauben, die beiden würden nicht zumindest vermuten, dass er irgendetwas mit ihnen vorhatte. Aber er war sicher, dass seine Gier nach der Ersten Wahrheit noch immer sein Geheimnis war. Der gesamte Abend war jedoch eine absolute Verschwendung gewesen.
Bailic reckte sich nach dem obersten Bord. Alle anderen waren von Talo-Toecan mit Bannen belegt worden, und er konnte nichts darauf berühren. Da er auf das oberste Brett nicht blicken konnte, strich er mit den Fingern darüber auf der Suche nach dem kleinen Tiegel mit der heilkräftigen Salbe. Wenn sie Raku-Wunden heilte, würde sie gewiss auch bei diesen Kratzern helfen. Er balancierte wackelig auf den Zehenspitzen, als ein dumpfes Dröhnen die warme, stille Luft erzittern ließ. »Bei den Hunden …«, brummte er, und dann bebte der Boden und schleuderte ihn beinahe von den Füßen.
Bailic kämpfte darum, das Gleichgewicht wiederzufinden, ohne die mit Bannen belegten Regale zu berühren, und stieß dabei an den Salbentiegel. Er kippte um und rollte klappernd das Regalbrett entlang, erreichte das Ende und rollte anmutig über die Kante. Bailic sandte seine Gedanken aus, um ihn aufzufangen. Er bekam ihn nicht rechtzeitig zu fassen, und das Töpfchen knallte mit einem scheußlichen Krachen auf den Boden und zersprang.
»Bei den Wölfen«, fluchte er. Die kostbare Salbe war mit Steinsplittern verunreinigt. Wertlos. Dann erstarrte er. »Talo-Toecan«, flüsterte er, plötzlich voller Angst. »Was habt Ihr getan?«
Nur eine gewaltige Menge plötzlich frei werdender Energie konnte diese Explosion erklären. Nur Talo-Toecan konnte den Versuch gewagt haben, so viel Energie kontrolliert freizusetzen.
Aber wozu? Er konnte nichts und niemanden innerhalb der Feste mit einem Bann erreichen, solange er dort unten gefangen war.
War er entkommen?, fragte sich Bailic. Reglos blieb er stehen und tastete die mondhelle Nacht nach neuen, tödlichen Bedrohungen ab. Er schauderte heftig, schüttelte seine Angst ab und zog seine geborgte Meister-Weste enger um sich. Wenn es einen Weg durch das Gitter gäbe, hätte die schlüpfrige Bestie ihn schon vor Jahren gefunden. »Also, was tut Ihr da unten, alte Eidechse?«, sagte er laut. Jede Spur von Zorn war verraucht, und er runzelte besorgt die Stirn. »Vielleicht sollte ich das herausfinden und Euch noch einmal an Eure neue Lebenssituation erinnern.«
Vorsichtig bahnte er sich einen Weg über zerbrochenes Geschirr und verstreutes Papier und trat auf den Flur. Immer weiter abwärts stieg er, bis er in das Loch im Boden unter der Treppe starrte. Er wischte sich den plötzlichen Schweiß vom Nacken und hielt lauschend inne. Seine forschenden Sinne fanden nichts. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass Talo-Toecan ihm nicht durch irgendein Wunder auf dem Weg nach unten begegnen würde, entzündete er mit einem raschen Gedanken eine Fackel und begann den Abstieg.
Bailics Knoten der Anspannung löste sich, als er den kleinen Vorraum erreichte und der gewaltige Umriss seines Gefangenen ihn hinter den schwarzen Gitterstäben erwartete – ein zusammengerollter Schatten aus Flügeln und ledriger Haut, dessen gelbe Augen das Licht von Bailics Fackel reflektierten. Diese Augen blinzelten langsam, als Bailic sich vorsichtig zu der Wandhalterung schob, in der noch die erloschene Fackel von seinem letzten Besuch steckte. Kein Laut war zu hören, außer dem Tropfen des Wassers und dem leisen Echo seiner scharrenden Füße.
Ein leises Beben in der Luft ließ ihn innehalten, und er erbleichte, als er erkannte, dass es von seinem Gefangenen kam. Der Raku knurrte so tief, dass man den Ton nicht hören, sondern nur in der feuchten Luft spüren konnte. Bailic entschied, dass er die Fackel lieber in der Hand behalten als dicht vor dem Raku den Vorraum durchqueren wollte. Er zog sich so
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